366 II. Von den Funktionen der Reichsgewalt.
staaten voraus. Diese Voraussetzung trifft beim Reichslande nicht
zu. Vor allem würde es sich fragen, auf welchem Rechtstitel soll
die Staatseigenschaft von Elsass-Lothringen beruhen? Die von
Frankreich abgetretenen Gebietstheile hatten keinen andern inne-
ren Zusammenhang, als dass sie früher zum französischen Staate
gehört hatten. Die Bezeichnungen Elsass und Lothringen hatten un-
ter Frankreich nicht einmal eine staatsrechtliche, sondern nur eine
geographische Bedeutung. Dass sie von Frankreich die Staatseigen-
schaft mit herübergebracht hätten, kann natürlich niemand behaup-
ten. Aber das deutsche Reich, das über sie unbedingt zu verfügen
hatte, hat sie nie zu einem Staate gemacht. In keinem auf das
Reichsland bezüglichen Reichsgesetze ist eine solche Erhebung zum
Staate jemals ausgesprochen, ebenso wenig aber stillschweigend ein-
geräumt worden. Vielmehr sprechen sich alle officiellen Erklärun-
gen gegen die Staatseigenschaft von Eleass-Lothringen aus!. Zum
Begriffe eines Staates gehört eine, wenn auch nicht souveraine,
jedenfalls aber selbständige, auf ihrem eigenen Rechte ruhende,
im Organismus des Staates selbst begründete Staatsgewalt, wie sie
die deutschen Einzelstaaten jedenfalls besitzen. Eine solche fehlt
dem Reichelande durchaus. Die Staatsgewalt über das Reichsland
steht allein dem Reiche zu. Wenn auch seit dem Jahre 1879 die
oberste Verwaltungsbehörde in das Reichsland verlegt worden ist, so
bleibt sie doch durchaus eine vom Reiche abgeleitete Amtsgewalt,
die jeder Zeit widerrufen werden kann. Wenn man auch dem Lan-
desausschuss eine gewisse Theilnahme an der Landesgesetzgebung
eingeräumt hat, so steht doch dem Reiche die oberste gesetzgebende
Gewalt zu, wodurch die Landesgesetzgebung jeder Zeit beliebig
wieder zur Reichssache gemacht werden kann. Wegen Mangels
einer selbständigen, im eigenen Organismus begründeten Staatsge-
walt kann Elsass-Lothringen nicht als Staat angesehen, sondern muss
begrifflich einer andern Kategorie vom Gemeinwesen untergeordnet
werden, welche wir unten zu bestimmen suchen werden.
1 Motive zum Gesetze vom 9. Juni 1571: »Das von Frankreich abgetretene
Gebiet ist nicbt bestimmt, einen mit eigener Staatshoheit bekleideten Bundes-
staat zu bilden, die Landeshoheit über dasselbe ruht im Reich», Delbrück in
der Reichstagssitzung vom 20. Mai 1871: »Die formellen Schwierigkeiten, die in
der Stellung eines I.andes liegen, welches nicht Theil eines Bundenstantes und
welchen auch selbst nicht Bundesstaatist, — diese formellen Schwie-
rigkeiten, die icb nicht verkenne, können an sich unmöglich davon abhalten,
dem I.ande eine solche Stellung zu geben, wenn man der Üeberzeugung ist, diese
Stellung Ist an sich richtig.«