Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Reichsstaatsrecht (2)

3. Der Reichstag. 71 
Drittes Kapitel. 
Der Reichstag". 
6 259. 
I. Staatsreohtlioher Charakter des deutschen Reichstages, 
Während Kaiser und Bundesrath unverkennbar an die 
Einrichtungen des älteren deutschen Reiches erinnern, findet der 
Reichstag in jenen älteren Institutionen keine Analogie. Im 
ehemaligen Reichstage waren die Regierungen der einzelnen Terri- 
torien vertreten, er war »das Corpus der Reichsstände«, der Vor- 
gänger des heutigen Bundesrathes. Der Gedanke einer Volks- 
vertretung war dem ganzen kontinentalen Europa des vorigen 
Jahrhunderts fremd; am wenigsten fand er eine Stätte in der feu- 
dalen, aristokratischen Ordnung des älteren deutschen Reiches. 
Ebenso fehlte es dem deutschen Bunde in seiner Gesammtheit an 
jeder Vertretung des deutschen Volkes; ja eine solche wäre mit der 
staatsrechtlichen Natur des deutschen Bundes, als eines Staatenver- 
eines, geradezu unverträglich gewesen. Darum scheiterten alle auf 
Herstellung einer Volksvertretung beim Bunde gerichteten Bestre- 
bungen. Nur ein wahrer Staat kennt ein einheitliches Volk und 
lässt eine Vertretung desselben zu ; ja, der Bundesstaat, als die mo- 
derne Form des Staatenstaates, kann ohne das Organ einer Volks- 
vertretung nicht gedacht werden ($. 46). Wie das föderative Ele- 
ment in einem Staatenhause, Ständerathe, Senate oder Bundesrathe 
seine Darstellung findet, so muss auch das im Bundesstaate vorhan- 
dene einheitliche Volk mit Nothwendigkeit in einer Nationalvertre- 
tung zum entsprechenden Ausdrucke kommen. Diesem Postulate 
haben auch alle bundesstaatlichen Verfassungen entsprochen, die 
nordamerikanische Union hat von Anfang an ihr Repräsentanten- 
haus, die Schweiz ihren Nationalrath, der Entwurf einer deutschen 
Reichsverfassung vom 28. März 1849 seinen Reichstag, ebenso der 
Entwurf des sogenannten Dreikönigsbündnisses. Charakteristisch 
ist es, dass alle Gegenentwürfe, welche überhaupt den Gedanken 
des Bundesstaates verneinten, keine einheitliche Vertretung des 
t Leband, B. 1855 47—53. Thudiohum, 8. 132—219. v. Mohl, 8. 331 ff, 
Seydel, 8.196 f. Derselbe in Hirth’s Annalen, Der Reichstag 1880. 8. 352 ff. 
Westerkamp, 8.85. v. Rönne, 1552840. G. Meyer, Lehrb. $$ 128—133, 
Zorn, B.I$ 118.168 ff. Derselbe bei Holtzendorff, B. III 8. 409 ff.
	        
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