72 I. Von den Organen des deutschen Reiches.
deutschen Volkes, sondern nur aus den Landtagen der Einzelstaaten
hervorgehende Delegirtenversammlungen kannten, so der Münchner
Entwurf vom 25. Februar 1850 (8. 134}, so das österreichische Re-
formprojekt von 1863 (S. 145). Es zeugt von einem tiefen Ver-
ständnisse des bundesstaatlichen Gedankens, dass die preussische
Regierung als unerlässliche Forderung jeder l3undesreform (eine
wahre, aus direkter Betheiligung der ganzen Nation hervorgehende
Nationalvertretung« verlangte. An diesem grossen Gedanken hat
Preussen von nun an in allen seinen lteformbestrebungen unent-
wegt festgehalten. Mitten im schleswigholsteinischen Konflikte
stellte Preussen am 9. April 1566 den Antrag auf Einberufung eines
deutschen Parlamentes, welches aus direkten Wahlen und allge-
meinem Stimmrechte hervorgehen sollte \$. 155}. Ebenso hielten
die Grundzüge einer neuen Bundesverfassung vom 10. Juni 1866
an dem Gedanken einer einheitlichen Nationalvertretung fest. Bei
der Gründung des norddeutschen Bundes verstand sich die Ein-
fügung einer Volksvertretung in den Organismus des neuen Bun-
desstaates ganz von selbst, wenn auch über Zusammensetzung und
Befugnisse derselben sich mannigfach verschiedene Ansichten ent-
gegenstanden. Die am 16. April 1867 beschlossene, am 1. Juli 1867
ins Leben getretene Verfassung des norddeutschen Bundes hat in
Abschnitt V Artikel 20—32 über die volkavertretende Körperschaft
des Reichstages Bestimmungen getroffen, welche unverändert in die
heutige deutsche Reichsverfassung übergegangen sind. Auf Grund-
lage derselben gilt es jetzt die staatsrechtliche Natur des Reichstages
festzustellen.
Die juristische Charakteristik dieses Organs macht weniger
Schwierigkeiten, weil dasselbe in seinen Grundgedanken ganz der
Volksvertretung der Einzelstaaten entspricht. Was die Landtage
in den deutschen Einzelstaaten sind, das ist der Reichs-
tag im deutschen Reiche. Wir verweisen daher auf unsere
Darstellung im Landesstaatsrecht (Buch I Kapitel V), wo wir den
Grundgedanken und juristischen Charakter der deutschen Volks-
vertretung erörtert und besonders den hier obwaltenden eigenthüm-
lichen Begriff der Vertretung einer eingehenden Untersuchung
unterzogen haben (8. 455—460\.
Der deutsche Reichstag ist neben Kaiser und Bundesrath das
dritte unmittelbare Organ im Gliederbau des Reiches;
aber er ist ebensowenig wie der Landtag in den Einzelstaaten, nach
deutschem Staatsrechte, Mitträger der Souveränetät; er übt keine