3. Der Reichstag. 87
kürzten Verfahren nur mit Zustimmung des Bundesrathes uuter-
zogen werden. $ 25. Die Vorlagen des Bundesrathes werden durch
Mitglieder desselben oder durch besonders von letzterem zu er-
nennende Kommissarien vertreten. Reichsverfassung Artikel 16.
Jedes Mitglied des Bundesrathes hat das Recht, im Reichstage zu
erscheinen, und muss daselbst auf Verlangen jeder Zeit gehört wer-
den, um die Ansichten seiner Regierung zu vertreten, auch dann,
wenn dieselben von der Majorität des Bundesrathes nicht adoptirt
sind. Artikel 9. Da die Bundesrathsmitglieder nicht Mitglieder des
Reichstages sind, so stehen sie auch nicht unter der Disciplinarge-
walt des Präsidenten ; doch hat letzterer das Recht, sie zum Zirecke
der Geschäftsleitung zu’! unterbrechen; sie haben das Recht, auch
nach Schluss der Diskussion das Wort zu ergreifen, wodurch aber
die Debatte von neuem als eröffnet angesehen wird. Die Anträge
von Mitgliedern werden durch den Antragsteller begründet. Die
Beschinessfassung im Reichstage erfolgt nach Stimmenmehrheit.
Zur Gültigkeit der Beschlussfassung ist die Anwesenheit der Mehr-
heit der gesetzlichen Anzahl der Mitglieder erforderlich, also wenig-
stens 199. Bei Stimmengleichheit gilt der Antrag als abgelehnt !'.
3) Vertagung, Schliessung und Auflösung des Reichstages.
Dem Kaiser allein steht das Recht zu, den Reichstag zu ver-
tagen und zu schliessen. Der Reichstag darf sich weder selbst ver-
tagen, noch schliessen. Eine Vertagung durch den Kaiser muss auf
bestimmte Zeit geschehen. Ohne Zustimmung des Reichstages darf
die Vertagung die Frist von 30 Tagen nicht überschreiten und wäh-
rend derselben Session nicht wiederholt werden. Reichsverfassung
Artikel 26. Vertagung und Schluss unterscheiden sich gerade so wie
bei den Landtagen der Einzelstaaten '$ 163). Bei der Vertagung
gilt das Princip der Kontinuität, bei dem Schlusse das der Dis-
kontinuität; letzteres hat in $ 70 der Geschäftsordnung eine aus-
1 Die Reichsverfassung vom 16. April 1871 enthalt — Artikel 25 Abratz 2
die Bestimmung: »Bei der Beschlussfassung über eine Angelegenheit, welche
nach den Bestimmungen dieser Verfassung nicht dem ganzen Reiche gemein-
schaftlich ist, werden die Stimmen nur derjenigen Mitglieder gezählt, die in Bun-
desstaaten gewählt sind, welchen die Angelegenheit gemeinschaftlich ist«. Dieser
Zusatz stand mit dem Grundsatz der Reichsrerfassung, dass alle Mitglieder Ver-
treter des ganzen Volkes, nicht einzelner Staaten sind, in so schneidendem Wider-
apruche, dass derselbe mit innerer Nothwendigkeit beseitigt werden musste. Dies
geschah durch das verfassungsändernde Reichagesetz vom 24. Februar 1673, wäh-
rend die gleiche Vorschrift für die Mehrheit im Bunderrathe mit der Natur die-
nes Organes keineswegs in Widerspruch steht.