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Tanzenden, Musicirenden, Gauklern geschmückt worden. An der
Außenseite des südlichen Straßburger Münfterthurmes fieht man
musicirende Sirenen, dabei phantastische Gestalten, vie sich schlagen
oder liebkosen, greuliche Ungeheuer, welche Menschen anfallen und
zerreißen, einen Centauren, der mit einem Löwen kämpft, und kleine
Teufel, die sich in der Nachbarschaft aufhalten.
Das alles war indeß nur harmlose Ausgelassenheit ohne die
geringste böse Absicht. Aber was soll man zu dem Relief im
Inneren des Münsters sagen, das eine spätere Zeit in frommer Ent-
rüstung vernichtete und worin die heiligen Handlungen offen ver-
spottet wurden? Bock und Schwein bringen den scheintodten oder
schlafenden Fuchs zu Grabe. Der Hase trägt die Kerze vor, der
Wolf das Kreuz, der Bär den Weihkessel, der Esel singt das Requiem
aus einem Buche das der Kater hält, und der Hirsch liest die heilige
Seelenmesse. War es nicht, als ob die erwachende Volkskraft den
Pfaffeneseln drohen wollte, die den gesunden Menschenverstand, Kritik
und Mutterwitz für immer auf die Bahre gebracht zu haben glaubten?
Und damit nicht genug, an der Decke des Münsterchores soll
das jüngste Gericht gemalt gewesen sein, wo der Herr in der Mitte
sitzend mit der einen Hand auf die unten versammelten Geistlichen
deutete und in der anderen eine Schrift hielt mit den Worten:
„Dies Volk ehret mich mit seinen Lippen, aber ihr Herz ist fern
von mir.“
Ja, ganz scandalöse Misbräuche hatten sich in die kirchlichen
Cultushandlungen eingeschlichen und wurden vom Straßburger
Publicum schon wie ein geheiligtes Recht in Anspruch genommen.
Unter der Orgel des Münsters befand sich ein rohes Bildwerk,
Simson mit dem Läwen, dem er tactmäßig den Rachen aufriß,
wenn er von der Orgel aus in Bewegung gesetzt wurde. Man
nannte es den Roraffen. Wenn nun am Pfingstfeste aus der ganzen
Discese Scharen des Landvolkes mit ihren Reliquien und Fahnen
unter heiligen Gesängen in der Mutterkirche zusammenströmten:
so verbarg sich regelmäßig Jemand hinter dem Roraffen und trieb
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