Full text: Geschichte des Elsasses von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart.

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In gewissem Sinne ist Gottfrieds Tristan der französischste 
Roman des deutschen Mittelalters. Nicht blos wegen der vielen 
französischen Wörter und Wortbildungen, die er als ein rechter Elsässer 
einmischt, nicht blos wegen der sonderbaren Fremdheit, mit der er 
seine Landsleute gelegentlich nicht als Deutsche, sondern als Alle- 
mands bezeichnet. Sondern wenn wir unter dem Französischen die 
vollendete äußere Durchbildung, die untadelige Feinheit der geselligen 
Form, die liberale Lebensanschauung, die lässige Beurtheilung sitt- 
licher Dinge — kurz was Hr. Renan sehr klangvoll „die lebendige 
Protestation gegen Pedantismus, Dogmatismus und Rigerismus“ 
nennt — verstehen: so ist der Tristan das franzssischste Buch der 
älteren deutschen Litteratur. 
Aber nicht blos das französischste — vielleicht auch das antikste. 
Gottfried besaß mehr als die gewöhnliche Schulbildung. Gottfried 
besaß ein unmittelbares Verhältniß zur Antike. Römischen Dichtern 
entlehnt er Wendungen und Anschauungen. Die Gestalten der 
Friechischen Fabelwelt sind ihm gegenwärtig und nehmen in den 
Schöpfungen seiner Phantasie eine ähnliche Stellung ein wie in 
den poetischen und künstlerischen Producten der Renaissance. 
Die reichere Bildung hat Gottfrieds Geist befreit von manchen 
Fesseln, in denen die mittelalterlichen Menschen seufzten. Ein Athem 
der Unabhängigkeit weht durch sein Gedicht. Ansätze von Kritik 
machen sich bemerkbar. Er ist ein Prophet der Liebe und des Rechts 
der Leidenschaft, und ein Prophet der keine Consequenzen scheut: 
bis auf die Ahnung selbst verschwunden scheint das Christenthum 
und christliche Moral. Gott selber wird bei ihm galant, und ein im 
Volksglauben des Mittelalters sehr geheiligtes Institut, das Gettes- 
urtheil, setzt er zu einer leeren Comödie herab, worin verwegene, 
aber glückliche Frauenlist den glänzendsten Triumph feiert. 
Nicht mit seinen aufgeklärten Ansichten, zu deren individueller 
Kühnheit sich kein Anderer erhob, auch nicht mit den höchsten Vor- 
zügen seiner künstlerischen Macht; aber mit dem was von unterge- 
ordneten Geistern nachgeahmt werden konnte, war Gottfried einer
	        
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