Über den heutigen Stand der Militär-Rechtswissenschatt u. -Gesetzgebung. 89
zerfällt bekanntlich in zwei Theile, das materielle Strafrecht (Straf-
gesetz), welches diejenigen Handlungen enthält, welche vom Gesetze
mit Strafe bedroht sind, und das formelle Strafrecht (den Straf-
process), welches den Gang ordnet, deu das Gericht bei einer Unter-
suchung und Aburtheilung zu beobachten hat. Neben dem Strafrecht
bestelit als wesentliche Ergänzung desselben das Disciplinar-Straf-
recht'!)und dasehrenräthliche Verfahren.?, Zur Aufrechtlaltung
der Disciplin ist nämlich den militärischen Vorgesetzten das Recht ein-
geräumt, Untergebene auch wegen strafbarer Handlungen oder Unter-
lassungen, welche im Strafgesetze nicht vorgeselien sind, aber dennoch
die Disciplin gefährden, innerhalb genau festgesetzter Grenzen zu be-
strafen. Dieses Recht wird im Gegensatze zur Strafgerichtsbarkeit das
Disciplinar-Strafrecht genannt. — Das ehrenräthliche Verfahren ent-
springt der Erkenntnis, dass die militärische Ehre die notliwendige
Voraussetzung des guten Geistes des Heeres ist, und dass das Officiers-
corps der Träger der militärischen Ehre ist. Das ehrenräthliche Ver-
fahren bezweckt, die gemeinsame Ehre des Officiersstandes zu wahren,
und unterliegen demselben Handlungen, welche zwar nicht nach dem
Strafgesetze zu behandeln sind, aber dennoch dem richtigen Ebrgefühle
und den Verhältnissen des Officiersstandes derart widerstreiten, dass der
Schuldige nicht in seiner militärischen Stellung belassen werden kann.
Halten wir nunmehr Rundschau über die Leistungen der Rechts-
wissenschaft auf dem Gebiete des Militär-Strafrechtes. — Die römischen
Juristen beschäftigten sich eingehender mit dem Militär-Strafrecht, als dies
unsere Juristen zu thun pflegen. Ein ganzer Titel der Pandekten (49, 16)
handelt von dem Militär-Strafrecht und enthält Fragmente aus den
Schriften der vornehmsten römischen Juristen, des Arrius Menander,
Paulus, Ulpian, Julian und Papinian. Von der deutschen Rechtswissen-
schaft ist das römische Militär-Strafrecht wenig beachtet worden. Es
ist allerdings richtig, dass das römische Strafrecht für die heutige Ge-
staltung des Strafrechtes nicht von derselben Bedeutung ist, wie das
römische Civilrecht für das heutige Pıivatrecht, und zwar aus Gründen,
die allgemein bekannt sind, und hier nicht näher erörtert werden sollen.
Jedenfalls aber ist das römische Militär-Strafrecht von hohem rechts-
historischen Interesse, da die Römer sowohl die Meister der Kriegs-
I) Die Disciplinar-Strafordnung für das preubische Heer vom Jahre 1872, alb-
gedruckt im „Commentar zum deutschen Militär-Strafgesetz“ von Keller: für Öster-
rcich-Ungarn Dienst-Reglement, I. Theil, 13. Abschnitt.
2) Für das preubische Heer die Verordnung vom 2. Mai 1874 (für die Marine
vom 2. November 1875), für Bayern die Verordnung von 31. August 1974; das ehren-
räthliche Verfahren für das österreichisch-ungarische Heer ist verlautbart mit der
Circular-Verordnung des Reichs-Kriegsministeriums vom 27. November 1874.