Allgemeines Wahlrecht. 721
Wahlen noch sehr ausdehnen wird, lässt sich mit Sicherheit voraussagen.
Und es ist keineswegs gesagt, dass nur der Clerus einen solchen unmittel-
bar wirkenden Einfluss auszuüben vermag; es lassen sich auch noch an-
dere Organisationen von Herrschaft über die Menge denken. In einem
Iaande mit aristokratisch agrarischen Verhältnissen, in Fabrik- oder Berg-
werkgegenden z. B. sind socialistische oder communistische Leitungen der
Wahlen nicht weniger als unmöglich. Hieran mögen denn allerdings Die-
jenigen eine Freude haben, welchen es um diese Nebenzwecke, nicht aber
um eine verständige Mitwirkung zu den politischen Aufgaben zu thun ist;
der Staatsmann kann einen solchen Zustand nur mit ernster Besorg-
niss betrachten. Er muss ein Wahlsystem vorziehen, in welchem die Ent-
scheidung in den Händen der zum Verständniss der Fraxen Befähigten und
zu einem eigenen Urtheile über Menschen und Dinge Geeigneten liegt. —
Drittens endlich ist das System des allgemeinen Wahlrechtes fast unver-
einbar mit einem parlamentarischen Systeme, d. h. mit einer Bildung der
Regierung aus der Mitte oder wenigstens nach dem Sinne der entschiedenen
Mehrheit der volksvertretenden Versammlung; doppelt so in einem födera-
tiven Organismus, dessen leitende Gewalt aus Vertretern vieler Regierungen
zusammengesetzt ist. Ein solches Regierungssystem setzt nothwendig ge-
schlossene Parteien mit feststehenden Zwecken und Grundsätzen, aner-
kannten und zur Uebernalıme einer Regierung geeigneten Fülhrern voraus.
Eine zahlreiche, aus allgemeinen Wahlen hervorgehende Versammlung kann
aber kaum solche feste und beständige Parteien haben. Solche sind überall
schwer zu bilden und zu erhalten ohne einen geschichtlich - aristokratischen
Kern; allein wie kann hier die Rede davon sein, wo die Grundlage der
Zusammensetzung nicht politisches Verständniss oder Vorurtleil ist, sondern
Einfluss der verschiedensten örtlichen Art? Die Folge ist nothwendiger
Weise eine Zersplitterung in zahlreiche Fractionen, davon keine eine Con-
sistenz und eine Mehrheit hat, keine auch nur mit Sicherheit eine Dauer
in Aussicht stellen kann. Und nun denke man sich erst einen Bundesrath
auf solchen Flugsand gebaut, gewechselt und bunt zusammengesetzt nach
zufälligen, vielleicht ganz unstaatlichen örtlichen Einflüssen auf die Menge!
Allerdings wird der geniale Urheber der ganzen Einrichtung und der ihm am
nächsten stelhlende Anhang diese Unmöglichkeit einer parlamentarischen
Regierung nicht bedauern, wobl gar damit sich über manche Tnzuträglich-
keit der Sache trösten; ist ibnen doch diese Form der Verwaltung vor
Allem verhasst. Allein ibre Abneigung wird eben nicht von Jedermann ge-
theilt, sondern es finden sehr Viele nur in dieser Ausbildung der Monarchie
mit Volksvertretung die richtige Lösung vieler sonst unüberwindlichen Schwie-
rigkeiten, namentlich die Vermeidung der gegenseitigen Zerreibung von
v.Mobl, Btaaterecht. Bad. III. 46