364 Die technischen Wissenschaften. X. Buch.
V. Elektrotechnik
Von Dr. J. Teichmüller, Professor an der Technischen Hochschule Karlsruhe
Von keiner unter allen technischen Wissenschaften kann man mit gleicher Berech-
tigung sagen, daß ihre Entwicklung so ganz in die Regierungszeit Kaiser Wilhelms ll.
fällt, wie von der Wissenschaft der Elektrotechnik. Zwar hat es schon vor dem Jahre 1888
eine Elektrotechnik gegeben, etwa seit Ende der siebziger Jahre, wo man anfing, im tech-
nisch-industriellen Sinne Dynamomaschinen zu bauen und elektrische Beleuchtungsanlagen
zu errichten — aber von einer elektrotechnischen Wissenschaft kann man doch erst seit der
Zeit sprechen, wo an den Technischen Hochschulen elektrotechnische Vorlesungen gehalten
und Institute errichtet wurden; das geschah wenige Jahre vor 1888. Berlin-Tharlotten-
burg unter Slaby und Darmstadt unter Kittler gingen im Wintersemester 1883/84
voran; Hannover unter Kohlrausch folgte im Herbst 1885.
Von da ab entwickelte sich dann die neue ODisziplin an den Technischen Hochschulen
schnell; im Zahre 1888 finden wir sie an allen in teilweise schon recht zahlreichen Vor-
lesungen und durch mehrere Dozenten vertreten.
Der wissenschaftlichen Pflege harrte nun ein weites Feld, das bis dahin haupt-
sächlich nur die Früchte empirischer Bearbeitung getragen hatte.
Gleichstrommaschinen. Die Erfolgezeigten sich sehr bald an den Dynamomaschinen.
Man sehe einmaldie älteren Gleichstrommaschinen an: mon-
ströse Gebildee mit langen dünnen Eisenschenkeln, die mit einer großen Menge Kupfer-
draht bewickelt sind! Der lange, ebenfalls dick bewickelte Anker wird zwischen massigen
Polschuhen gedreht. Biel vom teuren Kupfer und wenig vom billigen Eisen wurde ver-
wendet, um eine Maschine bestimmter Leistung zu erhalten. — Entschieden änderte sich
dieses Bild erst um 1887; die Maschinen erhielten nun kurze und dicke Eisenschenkel mit
verhältnismäßig wenigen Windungen Kupferdraht; in ihrer gedrungenen Gestalt bildet
die neue Maschine ein Gegenstück zu ihrer Vorgängerin. Diese Umwälzung ist ein
Ergebnis strenger wissenschaftlicher Forschungen, immer gepaart mit dem Streben, die
elektrischen Maschinen möglichst billig zu machen.
Oie wissenschaftlichen Untersuchungen, die diese Umwälzung hervorgebracht haben,
erstrecken sich hauptsächlich auf das, was man später den magnetischen Kreis ge-
nannt hat.
Die Grundlage zu der mit diesem Namen verbundenen Anschauung eines magne-
tischen Induktions- oder Kraftflusses, der auf geschlossenen Bahnen in sich zurücklaufe,
wurde schon von Faraday gelegt und von der englischen Schule darauf weitergebaut,
bis im Fahre 1884 Werner Siemens die Beziehung zwischen magnetomotorischer Kraft,
magnetischem Widerstand und Induktionsfluß als Ohmsches Gesetz des magnetischen
Kreises klar aussprach. Dieses anschauliche Gesetz und die Hopkinsonsche Jormulierung
der phpsikalischen Tatsachen führte zu der oben geschilderten Umwälzung, die der elek-
trische Maschinenbau in Deutschland in den Jahren 1887 und 1888 durchmachte (in Eng-
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