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Art. 90.
Ist namhafter Verdacht vorhanden, daß der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte
strafbare Handlung begangen habe, so kann die Haft verhängt werden:
1) wenn der Gegenstand der Beschuldigung ein mit Arbeitshaus oder höherer Strafe
bedrohtes Verbrechen ist;
2) wegen Gefahr der Flucht, wohin auch die Verheimlichung des Aufenthalts zu
rechnen ist,
a) wenn der Beschuldigte unbekannt ist oder eines festen Aufenthalts entbehrt
und darüber, daß er sich jederzeit vor Gericht stellen werde, ein gegründeter
Zweifel besteht,
b) wenn derselbe wegen getroffener Anstalten zur Flucht oder aus anderen
Gründen sich der Flucht verdächtig gemacht hat;
3) wenn nach Lage der Sache und in Betracht der persönlichen Verhältnisse des
Beschuldigten gegründete Besorgniß obwaltet, daß derselbe die Untersuchung durch
Beseitigung der Spuren der That oder durch Verabredung mit Mitschuldigen
oder Zeugen vereiteln oder erschweren werde.
Es ist jedoch zunächst zu erwägen, ob nicht schon von dem Haus oder Ortsarrest,
der Beschlagnahme der Pässe oder sonstigen Ausweise oder von der Versetzung unter
besondere polizeiliche Aufsicht die Erreichung des Zwecks sich erwarten lasse, und ob nicht
den Beschuldigten schon durch die Haft ein mit der angezeigten Verschuldung im Miß-
verhältniß stehendes Uebel treffe.
Auch muß die blos wegen der im Absatz 1 Ziff. 3 bezeichneten Besorgniß verhängte
Haft, sobald jene nach der Sachlage sich nicht mehr geltend machen kann, unverzüglich
aufgehoben werden.
Bei Uebertretungen, für welche nach den Umständen des einzelnen Falls bloß Be-
zirksgefängniß oder Geldbuße verwirkt wäre, soll die Haft nur unter den Voraussetzungen
des Abs. 1 Ziff. 2 eintreten.
Art. 91.
Ob bei der Versetzung eines Beschuldigten in den Anklagestand oder bei seiner Ver-
weisung vor die Strafkammer ein Haftbefehl zu erlassen oder der zuvor erlassene zu
bestätigen sei, hängt von dem Ermessen der Raths= und Anklagekammer, beziehungsweise
des Untersuchungsrichters ab.