Tanger. 257
schaft an den Sultan von Marokko vor. Am 21. Februar traf der fran-
zösische Gesandte zu Tanger, Saint René Taillandier, in Fes ein und
machte dem Sultan eine Reihe von Vorschlägen im Namen der fran-
zösischen Regierung. Er wies auf die Anarchie und die Unruhen in Marokko
hin und erklärte, Frankreich wolle ihm zu neuem Ansehen und Marokko
zu einer neuen Ara des Friedens und der Arbeit verhelfen. Freiheit und
Integrität des Landes garantiere ihm Frankreich. Zur Ourchführung
dieser Absicht sei eine Reihe von Reformen notwendig. Unter ihnen nannte
der Gesandte: Neuorganisierung des marokkanischen Heeres unter fran-
zösischer Leitung, Anlegung öffentlicher Bauten, Reformen der Ver-
waltung, Rechtopflege, der Straßen und Wege, der Grenzen, der Polizei
und der Zolleinrichtungen, schließlich die Gründung einer Staatsbank
mit französischem Gelde und unter französischer Leitung. Diese Vor-
schläge bedeuteten nichts anderes als ein französisches Protektorat. Die
Redewendungen von Unabhängigkeit und Integrität, von Freiheit und
EGleichheit des Handels usw. konnten nur als verschleiernde Phrasen gelten.
Diese Vorschläge widersprachen ebenfallo dem Wortlaute des veröffent-
lichten französisch-englischen Abkommens: Frankreich wolle den poli-
tischen Zustand nicht ändern usw.
Wenige Tage vorher hatte der deutsche Gesandtschaftssekretär zu
Tanger dem dortigen französischen Gesandtschaftssekretär mitgeteilt:
Fürst Bülow habe ihn wissen lassen, daß die Kaiserliche Regierung nichts
vom ZInhalte des Marokkoabkommens wisse und sich hinsichtlich dieser
Frage in keiner Weise gebunden sähe. — Das war ein letzter Wink nach
Paris, einen diplomatischen Konflikt mit dem ODeutschen Reiche durch
amtliche Mitteilung und gegenseitigen Meinungsaustausch über das Ab-
kommen und seine Folgen zu vermeiden. Der Wink wurde unbeachtet
gelassen, und so wirkte die völlige Ignorierung des Oeutschen Reiches
als eine beabsichtigte Rücksichtslosigkeit nicht nur, sondern als Bekundung
des Willens der französischen Regierung, über die vertraglich (Madrider
Konvention) garantierten Interessen des Deutschen Reiches in Marokko
hinwegzugehen.
Unter diesen Umständen glaubte der Reichskanzler Fürst Bülow,
daß die Znteressen des Deutschen Reiches ebensowenig wie dessen Würde
ein weiteres untätiges Zusehen gestatteten, und so wurde eine Be-
suchsreise de5 Deutschen Kaisers an Bord de5 Dampfers „Hamburg"“ und
begleitet vom Panzerkreuzer „Friedrich Karl“ auf einen Besuch von Tanger
ausgedehnt. Am 27. März traf Kaiser Wilhelm in Lissabon zum Besuche
des Königs von Portugal ein. Am Mittag des 30. März verließ er die
Reede von Lissabon und ankerte am 51. März auf der Reede von Tanger,
wo zwei französische Kreuzer lagen. Am 21. März hatte die halbamtliche
Graf Reventlow, Deutschlands auswärtige Pollilé. 17