90 Das Staatsbürgerrecht. (§. 53.)
Personen, welche den König oder die Ministerien mit persönlichem Supplizieren belästigen,
und sich nicht bedeuten lassen, in ihre Heimat zurückzukehren und daselbst die Resolution
abzuwarten, sollen eventuell durch die Polizeibehörden zurückgebracht! werden. Die älteren
Vorschriften hierüber haben eine formelle Abänderung nicht gefunden, werden aber ihrem Sinne
gemäß eine den heutigen Verhältnissen entsprechende modifizierte Anwendung zu finden haben.?
2. Beschwerdeführung bei den Kammern.
a) Da der Art. 32 der Verfassungsurkunde allen Preußen das Petitionsrecht un-
eingeschränkt gewährleistet hat, so folgt daraus von selbst, daß hierin auch das Recht
inbegriffen ist, sich mit Beschwerden über, die Behörden wegen wirklicher oder vermeint-
licher Rechtsverletzung an die Kammern zu wenden. Dies Recht ist nur insofern be-
schränkt, daß erstlich Beschwerden unter einem Gesamtnamen nur Behörden und Korpo-
rationen gestattet sind (Art. 32 der Verfassungsurkunde), und zweitens niemand den
Kammern oder einer derselben eine Bittschrift in Person überreichen darf (Art. 81, Abs. 2,
der Verfassungsurkunde). Die Verfassungsurkunde enthält auch keine Beschränkung in
der Beziehung, daß die Kammern nur dann auf eine Prüfung der bei ihnen angebrachten
Beschwerden eingehen und in betreff derselben Anträge an die Staatsregierung stellen
dürfen, wenn nachgewiesen ist, daß der Beschwerdeführer bereits den gesetzlichen Instanzen=
zug der Staatsbehörden erschöpft und vergeblich selbst bei der obersten Regierungsbehörde
um Abhilfe nachgesucht hat“; allein obgleich auch die Geschäftsordnungen der beiden
Häuser des Landtages diese Beschränkung nicht aufgenommen haben, so haben doch beide
Kammern jederzeit den Grundsatz befolgt, sich mit solchen Beschwerden, bezüglich deren
der Instanzenzug noch nicht erschöpft worden war, nicht zu befassen. Ganz von selbst
versteht sich übrigens, und es ist auch dieser Grundsatz von den Kammern jederzeit be-
folgt worden, daß dieselben sich niemals in die materielle Entscheidung wirklicher Justiz-
sachen einmischen dürfen, sondern hierüber geführte Beschwerden unerörtert zurückzuweisen
haben, indem dies aus dem Grundsatze der verfassungsmäßigen Unabhängigkeit der Ge-
richte (Art. 86 der Verfassungsurkunde) folgt. Die Einwirkung der Kammern in bezug
auf erhobene Beschwerden beschränkt sich mithin auf das Gebiet der Verwaltung, und
innerhalb des Wirkungskreises der Gerichte würde eine solche nur insofern statthaft sein,
von der Behörde durch ein bloßes Dekret fest-
gesetzt werden; indes hat die K. O. v. 25. Mai
1836 (v. Kamptz, Jahrb., Bd. XLVII, S.
572) bestimmt, daß fortan nur den Ministerien
diese Befugnis zustehen solle, wogegen die Pro-
vinzialbehörden nach §. 30, A. G. O., Bd. III,
S. 1 verfahren, mithin eine förmliche Untersuchung
beantragen sollen. Diese Vorschrift ist durch die
spätere Gesetzgebung nicht aufgehoben worden.
Vgl. Art. 144, Ziff. 1 des preuß. A. G. z. G. über
die freiw. Ger. v. 21. Sept. 1899 (G. S. S.
249). Die durch ein bloßes Dekret festgesetzten
Ordnungsstrafen gegen Ouerulanten darf der
Justizminister niederschlagen (K. O. v. 16. Aug.
1834; v. Kamptz, Jahrb., Bd. XILIV, S. 102.
1 Vgl. jedoch §. 12, Abs. 1 des Freizügig-
keitsges. v. 1. Nov. 1867 (B. G. Bl. 1867,
S. 57).
2 Vgl. K. O. v. 31. Juli 1840 u. das Zirk.
Reskr. des Staatsmin. v. 12. Aug. 1840, betr.
die Verhinderung persönlicher überreichung von
Immediatbittschriften u. von Reisen zu diesem
Zwecke nach Berlin (M. Bl. d. i. Verw. 1340,
S. 341—3429.
3 Obgleich der Art. 32 der Verf. Urk. nur
das „Petitionsrecht“ der Staatsbürger ausdrück-
lich erwähnt, so ist doch nicht in Zweifel zu
ziehen, daß hierin auch das Recht der Kammern
begriffen ist, „Beschwerden“ wegen angeblicher
Rechtsverletzungen durch die Staatsregierung oder
deren Organe anzunehmen. Dieser Ansicht ist
auch Zöpfl, Grunds. des gem. d. St. R., 5.
Aufl., Teil II. S. 441—442. Die Vergleichung
des Art. 32 mit dem Abs. 3 des Art. 81 der
Verf. Urk. ergibt klar, daß das Wort „Petitions-
recht" im Art. 32 im weiteren Sinne gebraucht
ist. Die Rechtsschranken der Petitionsfreiheit sind
strafrechtlicher Natur, wobei sich der Petent nicht
auf §. 193 Str. G. B. (Wahrnehmung berechtigter
Interessen) berufen kann, da die Auslegung dieser
letzteren Bestimmung nur durch den Richter er-
folgen kann, Bornhak, a. a. O., S. 414; da-
gegen Arndt, Verf. Urk. 1904, S. 151. Born-
hak nimmt mit Recht auch eine Beschränkung des
Petitionsrechts der Beamten an, die sich durch jede
Beteiligung an öffentlichen Demonstrationen und
Agitationen gegen die Regierung, wodurch im
Publikum Mißstimmung und Widerstreben gegen
die Durchführung von Regierungsmaßregeln er-
weckt werden soll, einer Verletzung ihrer Dienst-
pflicht schuldig machen. Ob. Trib. Rechtspr. bei
Oppenhoff, Bd. IV, S. 38, Bd. V, S. 150,
Bd. VI, S. 441, für mittelbare Beamte O. B. G.,
Bd. XIV, S. 404, u. Wochenschr. „Selbstverwal-
tung“ 1888, S. 83.
Viele deutsche Verf. Urk. verlangen aus-
drücklich diesen Nachweis (vgl. Zöpfl, a. a. O.,
Teil II. S. 442, Note 4).