Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Zweiter Band. (2)

4 Das Staatsbürgerrecht. (8. 50.) 
alle politischen Vorrechte aufgehoben sein sollen, welche nach der früheren Gesetzgebung 
den Mitgliedern gewisser Stände im Gebiete des öffentlichen wie des Privatrechts, oder 
  
die richtige Auffassung des Begriffes und der Be- 
deutung der Stände getrübt, indem man häufig 
dazu gelangt ist, das Ständewesen überhaupt mit 
der besonderen Erscheinung zu verwechseln, daß 
jener politische Kampf sich um eine bestimmte, 
geschichtlich ausgebildete Organisation bewegte, 
welche von der einen Seite verteidigt, von der 
anderen in Beziehung auf den modernen Staat 
angefochten wurde. Das Wesen der Stände be- 
steht aber in der Gemeinschaft besonderer Ver- 
hältnisse und Interessen für einzelne Klassen der 
Bevölkerung, und auf die Ausbildung des Stände- 
wesens hat unzweifelhaft die nationale Anlage 
eines Volkes und seine geschichtliche Entwicklung 
in politischer und sozialer Beziehung entschiedenen 
Einstuß. Die ständischen Unterschiede werden 
sich überall in irgend einer Form wiederholen, 
weil sie in der menschlichen Natur und dem 
Wesen der bürgerlichen Gesellschaft begründet sind; 
allein im einzelnen kommt es darauf an, in 
welcher Gestalt sie hervortreten und bis zu welchem 
Grade den tatsächlich begründeten Verhältnissen 
die staatliche und rechtliche Anerkennung zuteil 
geworden ist. Man kann eine dreifache Bedeu- 
tung der Stände unterscheiden: die soziale, die 
politische und die rechtliche. Die soziale Be- 
deutung eines Standes macht sich überall geltend; 
in dieser Beziehung wird auch von den gebildeten, 
den höheren Ständen, und umgekehrt von den 
unteren Ständen gesprochen; auch die Bezeichnung 
des vierten Standes für die Arbeiterklasse gehört 
hierher. Eine bestimmte rechtliche Wirkung ist 
damit nicht verbunden, sondern nur in der tat- 
sächlich begründeten sozialen Lage besteht das 
Unterscheidende. Die politische Bedeutung eines 
Standes kann als die tatsächlich begründete Macht- 
stellung desselben gedacht werden, welche sich in 
öffentlichen Verhältnissen geltend macht; allein in 
dieser Hinsicht gehört sie gleichfalls nicht dem 
Rechtsgebiete an, sondern ist sozialer Natur. Für 
das Rechtegebiet kommen vielmehr nur diejenigen 
Befugnisse in Betracht, welche durch die Staats- 
verfassung einem Stande als solchem gewährt sind, 
und die Träger solcher politischen Standesrechte 
sind Stände im engeren Sinne im Gegen- 
satze zu der auf dem Prinzip des Staatsbürger- 
tums beruhenden Volksvertretung. In diesem 
Sinne haben die Stände in der neuesten Ent- 
wicklung des Verwaltungsrechts unleugbar wieder 
eine erhöhte Bedeutung gewonnen, indem für 
einige „Stände“ besondere Organe geschaffen 
wurden wie Handels-, Landwirtschafts-, Gewerbe-, 
Handwerker-, Arzte= usw. Kammern. S. darüber 
im Verwaltungerecht. Auch das Wahlsystem 
für die jetzt in der ganzen Monarchie bestehen- 
den Kreistage beruht auf einer ständischen Un- 
terscheidung: Großgrundbesitz, Kleingrundbesitz, 
Stadtbürgerrecht. Was endlich die privatrecht- 
liche Bedeutung eines Standes betrifft, so zeigt 
sie sich in dem innerhalb desselben herrschen- 
den besonderen Rechte, welches, unabhängig von 
dem gemeinen Landrechte, im Bereiche seiner 
Geltung selbständig wirkt, und für die Rechts- 
  
verhältnisse, in welchen sich der Standesunter- 
schied ausspricht, entscheidet. Ein solches inneres 
Ständerecht kann durch die Geburt begründet 
werden (z. B. das sogenannte Privatfürstenrecht 
des hohen Adels), oder es kann von anderen Vor- 
aussetzungen abhängen, insbesondere von dem Er- 
greifen eines bestimmten Berufes, z. B. Handels- 
recht, Gewerberecht (das frühere Zunftrecht); vgl. 
Beseler, System des gem. d. Privatrechts, Bd. 
III, S. 1 ff.; Gerber-Cosack, D. Privatrecht 
(17) §. 27; Gierke, D. Privatrecht I, 395 f. 
Indem nun der Art. 4 der Verf. Urk. die Idee 
der Gleichheit der Staatsbürger realisiert, leuchtet 
ein, daß dies nur auf die politischen oder staats- 
bürgerlichen Rechte bezogen werden kann. Die 
Verfassung will nur Bevorzugung oder Zurück- 
setzung im Rechte wegen der Geburt, namentlich 
die Vorrechte und Ausschließungen im Staats- 
und Privatrechte, abgeschafft wissen. Dagegen 
hat der Grundsatz der Gleichheit vor dem Rechte, 
wie auch der Wortlaut ergibt, gar keine Be- 
ziehung auf die besonderen Privatrechte der frühe- 
fren Geburtsstände, sowie auf die den Berufs- 
ständen eigentümlichen Institute und Rechtsnor- 
men. Dies erhellt am unzweideutigsten daraus, 
daß in den Art. 4 der Satz des Entwurfs der 
Nat. Vers. (s. d. vor. Note) nicht ausgenommen 
worden ist: „Es gibt im Staate keine Standes- 
unterschiede", und daß es auf den Antrag des 
Zentralausschusses der I. K. bei der Revision des 
Art. 4 abgelehnt wurde, den Satz aufzunehmen: 
„Vor dem Geses gilt kein Unterschied der Stände“, 
wobei als Grund der Ablehnung des hierauf ge- 
richteten Antrags angeführt wurde, „daß unter 
Ständen im weitesten Sinne auch Berufsklassen 
begriffen sind, deren Unterschied anerkannt werden 
muß, und weil es nicht darauf ankommt, diese 
Unterschiede zu leugnen, sondern nur darauf, daß 
ihnen als Ständen keine Vorrechte eingeräumt 
werden dürfen, was der zweite Satz des Artikels 
als eine Konsequenz des ersten ausdrückt (s. Stenogr. 
Ber. der I. K., 1849 50, Bd. II, S. 644). Da- 
mit ist der wahre Sinn des Art. 4 klar be- 
gründet. Der tatsächlich bestehende, überall nicht zu 
verwischende Unterschied der Stände in sozialer 
Beziehung, insbesondere der Unterschied aus 
der Berufestellung, hat weder beseitigt werden 
können, noch sollen: dagegen haben alle po- 
litischen Vorrechte aufgehoben werden sollen, 
sowohl auf dem Gebiete des öffentlichen, als 
des Privatrechtes, namentlich auch diesenigen 
politischen Standesrechte, deren Träger die 
Stände im engeren Sinne (im Gegen- 
sauve der Volkavertretung nach dem Prinzip 
des Staatsbürgertums bis dahin gewesen 
waren. Daß die Staatsregierung selbst den 
Sinn des Art. 4 in dieser Weise aufgefaßt 
hat, ergibt die Erklärung des Staatsministers 
Eichmann in der 89. Sitz. der Nat. Vers.: 
„Die politischen Unterschiede des Standes, die 
Privilegien und Vorrechte der Stände sollen auf- 
gehoben sein; politische Standesunterschiede soll 
es nicht mehr geben, aber Unterschiede, welche 
durch die Verhältuisse alle Tage neu entstehen, 
welche in den Ständen, wie man sie im gemeinen
	        
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