Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Zweiter Band. (2)

6 Das Staatsbürgerrecht. (F. 50.) 
Vorschriften aufzustellen, wie diejenige des Art. 4. Auch die von v. Rönne mitgeteilten 
und von ihm selbst gegebenen Interpretationsversuche führen im letzten Ende nur zu 
Widersprüchen. Nur die Einzelgesetzgebung vermag Antwort zu geben auf die zahllosen 
Fragen, die sich aus dem Grundsatze des Art. 4 ergeben: in der vagen Allgemeinheit 
seines Wortlautes ist Art. 4 lediglich ein Widerspruch zu den tatsächlichen Verhältnissen 
und deshalb unanwendbar. Erst die Einzelgesetzgebung gibt ihm einen verständ- 
lichen juristischen Sinn; eine Schranke für die Einzelgesetzgebung liegt in Art. 4 über- 
haupt nicht.] 
— Der Art. 4 enthält in diesem Sinne allerdings keineswegs nur eine Verheißung 
oder Verweisung auf ein künftiges Gesetz, welches die in ihm ausgesprochenen Grund- 
sätze erst ins Leben zu rufen und dieselben praktisch anwendbar zu machen habe, sondern 
er enthält vielmehr eine dispositive Vorschrift, welche die rechtliche Wirkung hat, daß da- 
durch, insoweit dies möglich ist, alle mit den Grundsätzen des Artikels unvereinbaren Be- 
stimmungen der älteren Gesetzgebung für aufgehoben zu erachten sind und folglich nicht 
mehr zur Anwendung gebracht werden dürfen?, oder doch, insoweit dies zur Verwirk- 
lichung des Artikels erforderlich ist, im Wege der Gesetzgebung abgeändert werden 
müssen. 
III. Der dritte Satz des Art. 4 der Verfassungsurkunde spricht nur eine spezielle 
Folgerun 
lichen 
dingungen, für alle dazu Befähigten gleich zugänglich sind“.“" 
—5 
aus den beiden vorangehenden Sätzen aus, nämlich die, „daß die öffent- 
mter, unter Einhaltung der von den Gesetzen festgestellten Be- 
Dadurch ist 
  
1 Der Gegensatz in der Auslegung des Art. 4 
flammte neuerdings mächtig auf bei den parlamen- 
tarischen Verhandlungen über das G. v. 10. Aug. 
1904 betr. die Gründung neuer Ansiedlungen in den 
Provinzen OÖst= und Westpreußen, Brandenburg, 
Pommern, Posen, Schlesien, Sachsen und West- 
falen (G. S. 227), besonders dessen §. 13 b. 
Dieser Paragraph bestimmt, daß die allgemeine 
„Ansiedlungsgenehmigung im Geltungsgebiete des 
Ges. betr. die Beförderung deutscher Ansiedlungen 
in den Provinzen Westpreußen und Posen v. 
26. April 1886 (G. S. 131)“ — analoge An- 
wendung findet die Vorschrift in den Provinzen 
Ostpreußen und Schlesien, ferner in Brandenburg 
im Regierungsbez. Frankfurt, in Pommern in 
den Regierungebez. Stettin und Cöslin — „zu 
versagen ist, solange nicht eine Bescheinigung des 
Regierungspräsidenten vorliegt, daß die Ansiedlung 
mit den zZielen des bezeichneten Gesetzes nicht in 
Widerspruch steht.“ Die „Ziele des bezeichneten 
Gesetzes“ sind: „Stärkung des deutschen Elements 
gegen polonisierende Bestrebungen durch Ansiedlung 
deutscher Bauern und Arbeiter“. Vgl. Stenogr. Ber. 
d. Abg. H. 1898, S. 75; 1902, S. 5463 ff., 5766 ff. 
2 Art. 109 der Verf. Urk. 
s v. Rönne, (Bd. II, S. 264, N. 2) war der 
Meinung: „Die dispositiven Bestimmungen des 
Art. 4 sind so bestimmt, daß sie in den meisten 
Fällen ausreichen, um ohne weiteres die dadurch 
erfolgte Aufhebung der damit unvereinbaren Vor- 
schriften von Spezialgesetzen anzunehmen (Art. 
109 der Verf. Urk.). 
Fälle, wo es erforderlich ist, an die Stelle der 
aufgehobenen Bestimmungen anderweitige Vor- 
schriften zu setzen, insbesondere bei allen orga- 
nischen Einrichtungen, wozu dann der im Art. 4 
ausgesprochene Fundamentalgrundsatz die ver- 
fassungsmäßige Notwendigkeit für die Gesetzgebung 
begründet. Auch hat die Gesetzgebung dem bereits in betreff der Prüfungen und der 
Indes gibt es allerdings 
  
teilweise Rechnung getragen. So hat z. B. schon 
das Strafgesetzbuch v. 14. April 1851 diejenigen 
Rechtsungleichheiten beseitigt, welche bis dahin 
im Gebiete der Strafgesetzgebung bestanden, und 
bereits die Gesetze v. 2. u. 3. Jan. 1849 über 
die Organisation der Gerichte und über das Ver- 
fahren in Untersuchungssachen haben die for- 
mellen Rechtsungleichheiten aufgehoben, welche bis 
dahin in betreff des Gerichtestandes und des 
Zivil= und Untersuchungs-Prozeßverfahrens be- 
standen hatten. Da übrigens der Art. 4 ganz 
allgemein spricht, so ist es keinem Zweifel unter- 
worfen, daß die Gleichheit der Rechtsverhältnisse 
nicht blos für das Materielle, sondern auch für 
die Form angeordnet ist.“ 
Dieser Satz war weder in dem Regierungs= 
entw. v. 20. Mai 1848, noch in dem Entw. 
der Verf. Komm. der Nat. Vers. enthalten, sondern 
ist zuerst von der Zentralabteilung der Nat. 
Vers. (unter Bezugnahme auf die gleichlautende 
Bestimmung des Art. II, §. 6 der Frankf. Grund- 
rechte) in folgender Fassung vorgeschlagen: „Die 
öffentlichen Amter sind für alle dazu Befähigten gleich 
zugänglich“ (Stenogr. Ber. der Nat. Vers., Bd. III, 
S. 1820). Im Plenum der Nat. Vers. ist hier- 
über indes nicht abgestimmt, in den Art. 4 der 
Verf. Urk. v. 5. Dez. 1848 aber jener Satz wört- 
lich übernommen worden. Bei der Revision des 
Art. 4 wurde derselbe mit Einschaltung der Worte: 
„unter Einhaltung der von den Gesetzen festge- 
stellten Bedingungen“ beibehalten. Die gedachte 
Einschaltung ist aus dem Grunde erfolgt, weil 
der wirkliche Sinn des Satzes nur der sei, daß 
kein Standes-, Glaubens-, noch sonstiger Unter- 
schied den Befähigten von der Bewerbung um 
die öffentlichen Amter und von deren Erlangung 
ausschliessen solle, die Einhaltung der durch 
das CGesetz geordneten Bedingungen (namentlich 
beizube-
	        
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