172 Das Staatsbürgerrecht. (8. 57.)
innerhalb des Einzelstaates“ beseitigte, so geschah dies, um dem Gedanken des Bundes-
staates sofort einen kraftvollen Ausdruck zu geben und in der Absicht, baldmöglichst im
Wege der Reichsgesetzgebung diejenigen Einrichtungen herzustellen, welche in ihrer Ge-
samtheit und Wechselwirkung das Reichsindigenat zu einem selbständigen und vollen
Rechte der Reichsangehörigkeit erweitern und ein wahres Reichsbürgerrecht bewirken.
Die Ausführung dieser Absicht aber sicherte die Reichsverfassung durch die Bestimmung
des Art. 3 über Zulassung aller Deutschen zur Erlangung des Staatsbürgerrechtes in
jedem Einzelstaate und Art. 4, Ziffer 1, wonach der „Beaufsichtigung seitens des Reiches
und der Gesetzgebung desselben die Bestimmungen über Freizügigkeit, Heimats= und
Niederlassungsverhältnisse usw. unterliegen. Der Zusammenhang der Absätze 3 und 4
des Art. 3 und des Einganges mit Ziffer 1 des Art. 4 der Reichsverfassung ist also
der, daß der Art. 4 die Reichsgesetzgebung ermächtigt, die Materien, welche durch die
Abs. 3 und 4 des Art. 3 zunächst provisorisch und unter Vorbehalten geordnet waren,
selbständig von Reichs wegen zu ordnen, mit der Wirkung des Art. 2 der Reichsverfassung,
„daß die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen"“. Von diesem Standpunkte aus hat
demnächst das Institut des gemeinsamen Indigenats der Reichsangehörigen durch eine
Reihenfolge zustande gekommener Reichsgesetze seine weitere Entwicklung gefunden.
III. Das Gesetz v. 1. Nov. 1867 über die Freizügigkeit? hat den Inhalt des
Art. 3 der Reichsverfassung durch eine Reihe von Bestimmungen zur Ausführung ge-
bracht, welche die rechtliche Gleichstellung der Reichsangehörigen innerhalb der Einzel-
staaten in der Hauptsache durchführen und sichern, und zugleich die Befugnis neu be-
gründen, sich — auch da, wo die Landesgesetze dies bisher selbst den eigenen Staats-
angehörigen verboten oder verkümmert hatten — allerorten im Reichsgebiete nieder-
zulassen, oder wirtschaftlich und gewerblich ansässig zu machen. Dieses ursprünglich
nur für das Gebiet des vormaligen Norddeutschen Bundes erlassene Gesetz gilt jetzt als
Reichsgesetz für das ganze Deutsche Reich. ? In Altpreußen, wie in dem Königreiche
Sachsen und in einigen anderen Staaten des Norddeutschen Bundes besaßen allerdings
die Staatsangehörigen bereits die Berechtigung, ihren Wohnort frei zu wählen, ohne
daß Staatsbehörden, Gemeinden oder Gutsobrigkeiten sie hieran hindern konnten; in einer
1 S. im übrigen zu Art. 3 der R. Verf. Bd. 1,
S. 348 u. die dort zit. Lit.; auch Entsch. d. O.
V. G., Bd. XVII, S. 144, Bd. XIX, S. 41,
Bd. XXX, S. 8.
2 B. G. Bl. 1867, S. 55 und den Entwurf
des G. nebst Motiven in den Stenogr. Ber. des
Nordd. Reichstages 1867, Bd. II, Aktenst. Nr. 50.
S. 119 ff., sowie den Ber. der VI. Komm. v.
17.Okt. 1867, ebendas., Aktenst. Nr. 109, S. 185 ff.
und die Verhandl. darüber in den Sitz. v. 21. u.
22. Okt. 1867 a. a. O., Bd. I, S. 532—566
u. 567. Von den Schriften über das Gesetz sind
hervorzuheben: v. Flottwell, Der Gesetzent-
wurf über die Freizügigkeit im Nordd. Bunde
unter Vergleichung des bisherigen Rechtszustandes
(Berlin, 1867); derselbe, Was bedeutet das
deutsche Heimatwesen. Ein Votum zu Art. 3
u. 4 der nordd. Bundesverf. und zur Einführung
der preuß. Gesetzgebung in die neuen Provinzen
Potsdam, 1867); Kanngießer, Das Gesetz
über die Freizügigkeit, mit Erläuterungen (Berlin,
1867); Arnold, Die Freizügigkeit und der
Unterstützungswohnsitz. Eine vom wissenschaft-
lichen und praktischen Standpunkte unternommene
Bearbeitung des Reichsgesetzes über die Frei-
zügigkeit v. 1. Nov. 1867, des Reichsgesetzes über
den Unterstützungswohnsitz v. 6. Juni 1870, und
der innerhalb des Geltungsgebietes der letzteren
ergangenen Landesgesetze usw. (Berlin, 1872);
Rletke, Deutsche Reichogesetze, betr. die persön-
liche, gewerbliche und militärische Freizügigkeit,
den Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit,
Unterstützungswohnsitz und Gewährung der Rechts-
hilse. Nach den amtl. Materialien usw. erläutert
(Berlin, 1872); K. Braun, Die Zugfreiheit im
Nordd. Bunde (in den Preuß. Jahrb., Bd. XX,
S. 112—427). — Vgl. ferner den Komm. zum
Freizügigkeitsgesetz v. 1. Nov. 1867 in Riedels
R. Verf. Urk., S. 224 ff. Weitere Literatur s.
noch S. 170, N. 1.
3 Für Baden und Südbessen ist dasselbe in-
folge des Art. 80, Ziffer 1I, Nr. 3 der mit Baden
und Hessen vereinbarten Bundesverf. (B. G. Bl.
1870, S. 647), für Württemberg infolge des
Art. 1 und des Art. 2, Ziffer 6 des Bündnis-
vertrages v. 25. Nov. 1870 (a. a. O., S. 656),
für Bayern zufolge des §. 2, Ziffer 1, Nr. 3 des
R. G. v. 22. April 1871 (R. G. Bl. 1871,
S. 87) und für das Reichsland Elsaß-Lothringen
zufolge des R. G. v. 8. Jan. 1873 (R. G. Bl.
1873, S. 51 u. G. Bl. für Elsaß-Lothr. 1873,
S. 1) in Kraft getreten. In betreff Bayerns
und Elsaß-Lothringens ist jedoch zu bemerken,
daß für diese Gebiete des Reiches auch der §. 7 des
Freizügigkeitsgesetzes v. 1. Nov. 1867 in Geltung
geblieben ist, dessen Bestimmungen für alle übrigen
Einzelstaaten durch den §. 1 des G. v. 6. Juni
1870 über den Unterstützungswohnsitz (B. G.
Bl. 1870, S. 360) außer Kraft gesetzt worden
sind. S. hierüber S. 171, N. 2.