Freiheit und Sicherheit der Person. (8. 57.) 201
Gründen in Friedenszeiten die Entlassung aus der Reichs= und Staatsangehörigkeit nicht
verweigert werden darf. Durch Art. 4, Z. 1 der Reichsverfassung ist jetzt die Aus-
wanderung grundsätzlich der Zuständigkeit des Reiches überwiesen, so daß den Einzel-
staaten keine Befugnis mehr zusteht, hierüber selbständig Vorschriften zu geben. Das
geltende Reichsrecht stimmt mit Art. 11 der preußischen Verfassungsurkunde überein.
Die Auswanderungsfreiheit im eigentlichen Sinne besteht in der rechtlichen Möglich-
keit, die Reichs= und Staatsangehörigkeit aufzugeben und zu diesem Zwecke die Entlassung
aus dem Reichs= und Staatsverbande zu fordern, welche nicht verweigert werden darf,
ausgenommen insofern als der Betreffende dem Reiche oder einem Einzelstaate des Reiches
durch besondere Pflichten — Militärpflicht oder Beamtenverhältnis — verbunden ist.
Das Beamtenverhältnis kann jederzeit durch Verzicht auf das Amt rechtlich beendet
werden (s. Bd. I., S. 535); dann steht der Entlassung aus dem Staatsverbande und der
Auswanderung von hier aus kein Hindernis im Wege. — Die Ableistung des Militär-
dienstes dagegen ist gesetzliche Untertanenpflicht; demgemäß kann während der Dauer dieser
Pflicht die Entlassung aus dem Staatsverbande und die Auswanderung ganz verboten oder
eingeschränkt werden. Dies ist durch die Reichsgesetzgebung in verschiedenen Abstufungen
für die verschiedenen Stufen der Erfüllung der Militärpflicht geschehen; die positiven
Vorschriften des geltenden Reichsrechtes s. Bd. I, S. 623. Andererseits aber liegt in
dem Grundsatze der Auswanderungsfreiheit auch die Befugnis, unter Beibehaltung der
Reichsangehörigkeit Wohnsitz im Auslande zu nehmen, welche für alle Reichsangehörigen
besteht, mit alleiniger Ausnahme derjenigen, welchen durch aktiven Militärdienst oder Be-
amtenverhältnis ein Aufenthalt innerhalb des Reichsgebietes angewiesen ist; über die auch
nach dieser Richtung bestehenden positiv-rechtlichen Einschränkungen, sowie über den durch
Zeitablauf erfolgenden Verlust der Staats= und Reichsangehörigkeit und die zur Ab-
wendung dieser Rechtsfolge möglichen Maßnahmen s. gleichsfalls Bd. I. S. 627.
Im Gegensatz zu diesen für das Reichsgebiet der Reichsverfassung geltenden Rechts-
grundsätzen beruht das Recht unserer Kolonien auf dem Grundsatze, daß die Eingeborenen
nur mit staatlicher Genehmigung auswandern dürfen, also auf dem im Inland der
Reichsverfassung als eine überwundene Kulturstufe anzusehenden Prinzipe der Gebunden-
heit des Menschen an die Scholle, des Zwangsrechtes des Staates auf und über die sein
Gebiet bewohnenden Menschen; vgl. hierüber die Verordnungen bei Zorn, Kolonialgesetz-
gebung für sämtliche Schutzgebiete, 1901.
II. Indem der Art. 11 der Verfassungsurkunde das Prinzip der Auswanderungs-
freiheit ausspricht, bestimmt derselbe zugleich, „daß Abzugsgelder? nicht erhoben werden
1 Von einem anderen Gesichtspunkte aus hat
das Reich noch in das Auswanderungswesen ein-
gegriffen, nämlich zum Schutze der Sicherheit
der Auswanderer. Nach dieser Richtung erging
die Verordn. d. B. R. v. 14. März 1898 (R. G.
B. S. 57) über Auswandererschiffe, dazu Verordn.
v. 1. März 1904 (R. G. B., S. 138); ferner
dient diesem Zwecke der Reichskommissar für das
Auswanderungswesen in Hamburg. Endlich ge-
hört hierher noch das preußische G. v. 7. Mai
1853 (G. S., S. 729), das gemäß Gewerbeordn.
§. 6 noch in Kraft geblieben ist.
* Das strenge Heimfallsrecht (jus albinaglü)
des älteren Rechtes, wonach die Erbschaft eines
Fremden dem Fiskus oder einem anderen (in-
ländischen) Berechtigten anheim fiel (vgl. Eich-
horns d. St. u. R. G., §. 373, Note 1), war
bereits dem A. L. R. fremd: es ist von selbst
außer Gebrauch gekommen. Dagegen hatte sich
das Abzugsrecht (die Nachsteuer) in bedeutendem
Umfange erhalten. Dasselbe wird von dem A.
L. R. (Teil II, Tit. 17, Abschn. 2) als ein Aus-
fluß der Gerichtsbarkeit und als niederes Regal
aufgefaßt, in dessen Besitze sich der Staat, wie
Private befinden können (vgl. über die Theorie
des A. L. R. in dieser Beziehung die Mitteilungen
der Gesetzrevisoren aus den Materialien in dem
Pens. XII der Gesetzrevisoren, Motive zum A.
L. R., Bd. II, 17, S. 297 ff.; s. auch Simon,
preußisches Staatsrecht, Bd. II, S. 573—574).
Dasselbe umfaßt: a) das Abfahrtsgeld (census
emigrationis), welches von dem Vermögen eines
Auswandernden, und b) das Abschoßgeld (gabella
hereditaria), welches von den aus dem abschoß-
pflichtigen Bezirke gehenden Erbschaften erhoben
wird. Von dem Abfahrtsgelde handeln die
§§#. 141—160 und von dem Abschoßgelde die
§§. 161—173 A. L. R., Bd. II, S. 17, und
von der Verleihung der betr. Rechte an Privat-
personen die §§. 174—183 ebendaselbst. — Altere
Literatur über das Abschostrecht: J. F. Reite-
meier, Das Abschoßrecht in den preuß. Staaten
(Frankfurt a. O., 1800); F. A. L. Kornemann,
Handbuch des Abschoßrechtes für preuß. Geschäfts-
männer (Halle 1803)0. Vgl. auch G. Meyer-
Anschützs, vehrb. (6) S. S04; Schwarsz, Verf. Urk.,
S. 73. Das Abzugsrecht zerfiel nach den Vorschriften
des A. L. R. in das ausländische und inländische,