Freiheit und Sicherheit des Eigentums. (8. 58.) 219
dies war es notwendig, die betreffende Gesetzgebung einer Revision aus dem Standpunkte
der Verfassungsurkunde zu unterwerfen, deren ganz allgemein gehaltene Bestimmungen
(im Art. 9) die näheren Feststellungen im Wege der Spezialgesetzgebung erforderten. Die
durch das Expropriationsgesetz zu ordnenden Gegenstände aber sind hauptsächlich: die
Bezeichnung der Fälle, in welchen die Gesetzgebung befugt sein soll, das Opfer des
Privateigentums zu fordern; der Behörde, welche darüber zu entscheiden hat; die Fest-
stellung der Formen, in welchen der öffentliche Nutzen konstatiert werden soll; die Be-
stimmung der Maßregeln, welche notwendig sind, um aus zumitteln, welche im Privat-
eigentume befindlichen Gegenstände für den Bedarf des öffentlichen Wohles notwendig sind;
das Verfahren, um die Abtretung zu bewirken und über die dabei erhobenen Einwendungen
zu entscheiden; das Verfahren, um die Entschädigung zu bestimmen, welche dem zur
Abtretung Pflichtigen gebührt; die Grundsätze, nach welchen die Entschädigung bemessen
werden muß; die Bezahlung der Entschädigung, und das besondere Verfahren, welches
in gewissen außerordentlichen Fällen eintreten soll, z. B. auch in bezug auf die Frage der
Entschädigung des Mieters, beziehungsweise Pächters eines der Enteignung unterliegen-
den Grundstückes. Das Bedürfnis eines solchen umfassenden Enteignungsgesetzes war
aber ganz unabweisbar geworden, nachdem durch die im Jahre 1866 eingetretene Ge-
bietserweiterung der Monarchie die bezüglich des Gegenstandes bereits in den bisherigen
Landesteilen bestehende voneinander abweichende Gesetzgebung eine noch verschiedenartigere
geworden war. 1 Das Abgeordnetenhaus hatte bereits im Jahre 1852 den Beschluß
gefaßt, die Staatsregierung zur Vorlegung eines Gesetzentwurfs zur Ausführung des
Art. 9 der Verfassungsurkunde aufzufordern ?, und infolgedessen veranlaßte das Justiz-
ministerium die Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs über Entziehung und Beschränkung
des unbeweglichen Eigentums 7, welcher jedoch vorläufig nicht an den Landtag gelangte.
Die im Jahre 1866 eingetretene Vergrößerung des Staatsgebietes machte indes mit
Rücksicht auf den Rechts zustand der neuerworbenen Landesteile eine Umarbeitung dieses
Entwurfs erforderlich, und erst in der Landtagssession von 1868—69 erfolgte dessen
Vorlage an das Herrenhaus, welches den Entwurf ohne erhebliche Abänderungen annahms;
im Abgeordnetenhause gelangte derselbe dagegen nicht zur Beratung. In der Session
von 1869— 70 wurde der Entwurf wiederum zunächst dem Herrenhause vorgelegt, welches
denselben abermals annahm.3 Der Gesetzentwurf wurde hierauf im Abgeordnetenhause
4 Eine genaue Übersicht der Lage der Expro-
priationsgesetzgebung in den verschiedenen Landes-
teilen der Monarchie vor dem Erlaß des G. v.
11. Jum 1874 über die Enteignung von Grund-
eigentum geben die Motive zu dem im J. 1868
dem H. H. vorgelegten Entwurf eines Gesetzes
über die Entziehung und Beschränkung des Grund-
eigentums in den Stenogr. Ber. des H. H. 1868
—69, Anl. Bd. II, Aktenst. Nr. 10, S. 49 ff.,
die Motive zu dem im J. 1869 dem H. H. vor-
gelegten Entwurf in den Stenogr. Ber. des H. H.
1869—70, Anl. Bd. II, Aktenst. Nr. 11, S. 18 ff.
und die Motive zu dem im J. 1871 dem Abg.
H. vorgelegten Entwurf eines solchen Gesetzes
in den Stenogr. Ber. des Abg. H. 1871—72,
Anl. Bd. I. Aktenst. Nr. 6, S. 36 ff. Vgl. auch
den Uberblick bei Brauchitsch, Verwaltungsges.
(13. Aufl.), IV, S. 379 f.
1 Ugl. den Antrag des Abgeordneten Rhoden
in den Drucks. des Abg. H. 1862, VII. Legislatur-
periode, 2. Session, Bd. I, Nr. 31, und in den
Stenogr. Ber. 1862, Bd. V, Aktenst. Nr. 24,
S. 137 und den (von dem Abgeordneten v. Rönne
erstattelen) Bericht der Justizkommission v. 20. Juni
1862 (in den Drucks. 1862, Bd. V, Nr. 54 und
in den Stenogr. Ber. 1862, Bd. V, S. 349) und
die Verhandlungen in der Sitzung v. 27. Juni
1862 in den Stenogr. Ber. 1362, Bd. I, S. 412.
3 Vgl. diesen Entwurf (nebst Motiven) in dem
nicht amtlichen Teile des J. M. Bl. 1864,
S. 337 ff. und Über denselben: Meischeider,
Über den Gesetzentwurf, betreffend die Entziehung
und Beschränkung des unbeweglichen Eigentums
(in der Preuß. Anwaltszeit., Bd. 1V, Jahrg. 1865,
S. 136 ff. und S. 145 ff.); Kritische Bemer-
kungen über den Gesetzentwurf, betr. die Ent-
ziehung und Beschränkung des unbeweglichen
Eigentums (in der Preuß. Anwaltszeit., Bd. V,
Jahrg. 1866, S. 545 ff.); Davidsohn, Be-
merkungen zu dem preuß. Entwurf eines Gesetzes
über Entziehung und Beschränkung des unbe-
weglichen Eigentums (in der D. Gerichtszeit.,
Jahrg. 1865, S. 73 ff., 77 ff.).
“ UVgl. diesen Entwurf (nebst Motiven) in den
Stenogr. Ber. des H. H. 1868—69, Anl. Aktenst.
Nr. 10, S. 49 ff.; den Kommissionsberichten
v. 14. Dez. 1868, ebendas. Anl. Aktenst. Nr.
37, S. 214 ff., und die Verhandlungen in der
Sitzung v. 18. Dez. 1868, Stenogr. Ber., Bd. I,
S. 95—113.
5 Vgl. den Entwurf in den Stenogr. Ber. des
H. H. 1869—70, Anl. Bd., Aktenst. Nr. 11,
S. 18 ff.; den Kommissionsbericht v. 16. Nov.
1869, ebendas., Aktenst. Nr. 34, S. 88 ff. und
die Verhandlungen in der Sitzung v. 19. Nov.
1869, Stenogr. Ber., Bd. 1, S. 81—83.