16 Das Staatsbürgerrecht. (8. 50.)
richtsgesetzes, auch gegenüber den Art. 4 und 12 aktuelles Recht seien. Diese letzt-
gedachte Ansicht des Kultusministers wurde indes von dem Hause der Abgeordneten für
unbegründet erklärt. ? Rönne führt hierüber folgendes aus (4. Aufl., Bd. II, S. 273 ff.:
„Der Art. 4 der Verfassungsurkunde macht die öffentlichen Ämter, also auch die Lehr-
ämter an öffentlichen Schulen, allen preußischen Staatsbürgern ohne Unterschied gleich
zugänglich, sofern sie nur die von den Gesetzen festgestellten Bedingungen erfüllen. Es
besteht aber kein Gesetz mehr, welches die Juden ausschließt; denn die desfallsigen Be-
stimmungen des Gesetzes v. 23. Juli 1847 waren schon vor Erlaß der Verfassungs-
urkunde durch den §. 5 des Gesetzes v. 6. April 1848 # beseitigt, welcher bestimmt, daß
die Ausübung staatsbürgerlicher Rechte, zu welchen das Recht auf Anstellung in öffent-
lichen Amtern unzweifelhaft gehört, fortan von dem Religionsbekenntnisse unabhängig sein
sollen. Die Verfassungsurkunde hat folglich diesen Grundsatz nicht zuerst ausgesprochen,
sondern denselben durch die in den Art. 4 und 12 derselben enthaltenen Bestimmungen
nur nochmals bestätigt. Die Berufung auf den Art. 112 derselben ist nicht zutreffend;
denn zu den danach bis zum Erlaß des im Art. 26 vorgesehenen Unterrichtsgesetzes noch
aufrecht erhaltenen „jetzt geltenden gesetzlichen Bestimmungen über das Schul= und
Unterrichtswesen sind die Bestimmungen des §. 2 des Gesetzes v. 22. Juli 1847 eben
deshalb nicht zu rechnen, weil dieselben bereits vor Emanation der Verfassungsurkunde
durch das Gesetz v. 6. April 1848 außer Kraft gesetzt worden waren. Es tritt noch
hinzu, daß jene Bestimmungen den Art. 4 und 12 der Verfassungsurkunde zuwiderlaufen
und folglich auch zufolge des Art. 109 nicht mehr in Kraft stehen. Unter den im
Art. 4 gedachten, von den Gesetzen festgestellten Bedingungen der Erlangung öffent-
licher Amter sind daher nur diejenigen verstanden, welche die innezuhaltenden Stadien
der Ausbildung betreffen. Die im Art. 112 ausgesprochene Suspension bezieht sich
lediglich auf die in den Art. 20 bis 25 ausgesprochenen Grundsätze, welche dem
im Art. 26 vorgesehenen Gesetze über das Unterrichtswesen zugrunde gelegt werden
sollen, und welches, eben wegen der in den Art. 4 und 12 enthaltenen Grundsätze,
bezüglich der Zulassung von Juden zu Lehrämtern nicht diejenigen Beschränkungen auf-
nehmen darf, welche der bis zum Erlaß des Gesetzes v. 6. April 1848 in Geltung
gestandene §. 2 des Gesetzes v. 23. Juli 1847 enthielt. Wenn endlich auf den Art. 14
der Verfassungsurkunde Bezug genommen worden ist, wonach bei den mit der Religions-
übung im Zusammenhange stehenden Einrichtungen des Staates die christliche Religion
zugrunde gelegt werden soll, so steht dem entgegen, daß es sich bei Schulen und
Unterrichtsanstalten überhaupt nicht um Einrichtungen des Staates handelt, welche mit
der Religionsübung im Zusammenhange stehen; es wird sich mithin dieser Satz allen-
falls nur auf solche Elementarschulen anwenden lassen, an welchen der Lehrer auch den
1 Vgl. die Erklär. des Min. v. Mühler in
den Sitz. des Abg. H. v. 1. Juli 1862 (Stenogr.
Ber. 1862, Bd. I, S. 451), und v. 12. Aug.
1862 (Stenogr. Ber. 1862, Bd. III, S. 1287),
desgl. die in den Kommissionen abgegebenen Er-
klärungen in den Stenogr. Ber. des Abg. H. 1862,
Bd. V. S. 374—375, u. Bd. VII, S. 995—
996, endlich die Erklär. des Kommissarius des
Kultusmin. in der Sitz. des Abg. H. v. 14. März
1863 (Stenogr. Ber. 1863, Bd. I, S. 600).
: Vgl. den Ber. der Petitionskomm. des Abg. H.
v. 24. Juni 1862 (Drucks. 1862, IV. Legisl.
Per., Bd. II. Nr. 57, S. 17 ff., und Stenogr.
Ber. 1862, Bd. V, S. 374—375), und den Ber.
der Komm. desselben für das Unterrichtew. v.
d. Aug. 1862 (Drucks. 1862, VI. Legisl. Per.,
Md. IV, Nr. 121, S. 1, und Stenagr. Ver.
1862, Bd. VII, S. 994 ff.); deegl. die Ver-
handl. darüber in den Plenarsitz. des Abg. H. v.
1. Juli u. 18. Ang. 1862 (Stenogr. Ber. 1862,
Bd. I. S. 442—454, u. Bd. III. S. 1279—94/,
u. v. 14. März 1803 (Stenogr. Ber. 1863, Bd.
I. S. 5994—601); den Komm. Ber. der Petitions-
komm. v. 19. Febr. 1863 (Drucks. des Abg. H. 1863,
Bd. I. Nr. 48, S. 18, u. Stenogr. Ber. 1862,
Bd. III, S. 1149), und den Komm. Ber. der
Petitionskomm. v. 31. Dez. 1866 (Stenogr. Ber.
1866—67, Anl. Bd. II, Aktenst. Nr. 143, S.
692 zu B). Auch in dem im Jahre 1862 auf-
gelösten Abg. H. war die Frage zur Sprache, je-
doch wegen Auflösung des Hauses nicht zur Be-
schlußfassung gekommen ivVgl. den Ber. der Komm.
für das Unterrichtsw. v. 21. Febr. 1862 in den
Drucks. des (demnächst ausgelösten) Abg. H. 1862,
Bd. II, Nr. 57, und Stenogr. Ber. 1862, Bd.
II. S. 285 ff., und die Verhandl. darüber in
der Plenarsitz. v. 4. März 1862 in den Stenogr.
VBer. 1862, Bd. I, S. 261—271).
2 G. S. 1848, S. 88.
* Dies ergibt auch die Entstehungzsgeschichte
des Art. 112 der Verf. Urk.