Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Zweiter Band. (2)

Bersammlungs- und Vereinsrecht. (S. 60.) 275 
heit gerichtete Bewegung bildete einen der hauptsüchlichsten Bestandteile der Gesamtbewegung 
d. J. 1848 und war den bisherigen Beschränkungen gegenüber grundsätzlich durchaus 
berechtigt; zunächst freilich schoß diese Bewegung in der Geltendmachung dieses „natür- 
lichen“ Rechtes, insbesondere auch in den parlamentarischen Verhandlungen, weit über 
das richtige Ziel hinaus, ja nahm sogar in der Behauptung, dies Recht sei nur eine 
Kombination der beiden „natürlichen Rechte“ „zu gehen“ und „zu sprechen“, einen gerade- 
zu phantastischen Charakter an; der weiteren Entwicklung war es vorbehalten, Freiheit 
und Staatsordnung in den richtigen Zusammenhang zu bringen. Die deutsche Reichs- 
verfassung von 1849 gewährleistete in den 8§§. 161, 162 das Vereins= und Versamm- 
lungsrecht. Demnächst aber hat die preuß. Verfassungsurkunde das Versammlungs= und 
Vereinsrecht gleichfalls förmlich gewährleistet.à Die Verfassungsurkunde gewährleistet dies 
Recht „den Preußen“. An Stelle der Preußen sind nach Reichsverfassung Art. 3 die 
Deutschen getreten. Weiter aber reicht das Recht nicht; den Ausländern steht dasselbe 
als ein „staatsbürgerliches“ Recht nicht zu.¾ Das Reich hat von der ihm in Art. 4, 
Ziff. 16 der Reichsverfassung überwiesenen Zuständigkeit zur Regelung des Vereins= und 
Versammlungsrechtes bis jetzt nur in bezug auf Einzelpunkte es. S. 287) Gebrauch 
gemacht; parlamentarische Erörterungen über den Gegenstand finden häufig im Reichs- 
tage wie in den Landtagen statt. 
Die Vorschriften der preußischen Verfassung sind: 
1. „Alle Preußen sind berechtigt, sich ohne vorgängige obrigkeitliche Erlaubnis! 
  
sammlungen unter freiem Himmel können, inso- 
fern sie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung 
nicht gefahrbringend sind, von der Obrigkeit ge- 
stattet werden. Ebenso sind alle Preußen berech- 
tigt, zu solchen Zwecken, welche den Strafgesetzen 
nicht zuwiderlaufen, sich ohne vorgängige polizei- 
liche Erlaubnis in Gesellschaften zu vereinigen. 
Alle, das freie Versammlungsrecht beschränkenden, 
noch bestehenden gesetzlichen Bestimmungen wer- 
den hiermit aufgehoben.“ Hiernach sind insbe- 
sondere alle oben aufgeführten, das Versamm- 
lungs= und Vereinsrecht beschränkenden Bestim- 
mungen veraltet. Was insbesondere den Bundes- 
beschluß v. 5. Juli 1832 betrifft, so gehört er zu 
den durch den Bundesbeschluß v. 2. April 1848 
außer, Kraft gesetzten Ausnahmegefetzen. 
1 Uber die der preußischen analoge Gesetzgebung 
in den übrigen deutschen Staaten s. die Angaben 
bei G. Meycr-Anschütz, S. 839, N. 9, sowie 
P. Berger im Verwaltungsarchiv von Keil und 
Schulvenstein, Bd. 1I, S. 543 ff.: Bd. II, S. 
290 ff 
: Das anhaltische G. v. 14. März 1896, Art. 
III, §. 10 spricht ausdrücklich aus, daß nur 
deutsche Staatsangehörige Mitglieder politischer 
Vereine sein dürfen (G. Meyer-Anschütz, S. 
842, N. 8). Das preußische Recht hat diese Be- 
stimmung nicht; aus den im Text angegebenen 
Gründen wird aber auch für Preußen die gleiche 
Folgerung gezogen werden müssen. Die wichtige 
Frage der Stellung der Ausländer im Rahmen 
des Vereins= und Versammlungerechtes ist bis jetzt 
wenig erörtert und in der Gesetzgebung völlig un- 
berücksichtigt; s. die grundsätzlichen Bemerkungen 
S. 149 ff. 
2 S. hierzu Ollendorf in D. Jur. Ztg. 1903, 
S. 91 ff.; Francke in Soziale Praxis v. 23. Okt. 
1902. Einen vollständigen Entwurf eines Reichs- 
vereinsgesetzes s. in Drucksachen des deutschen 
Reichstags 1895—97, Anl. III. S. 1695 ff. 
  
* Die Worte: „ohne obrigkeitliche Erlaubnis“ 
charakterisieren den wesentlichen Unterschied, wel- 
cher zwischen Versammlungen in geschlossenen 
Räumen und unter freiem Himmel stattfindet. 
Obgleich nämlich (Abs. 2 des Art. 30 der Verf. 
Urk.) der Gesetzgebung die Befugnis zusteht, die 
Ausübung des Versammlungorechtes zu regeln, 
und obgleich ihr (Abs. 2 des Art. 29) in betreff 
der Versammlungen unter freiem Himmel frei- 
gegeben ist, deren Gestattung nicht allein von der 
vorgängigen obrigkeitlichen Erlaubnis abhängig 
zu machen, sondern vielmehr sich ganz unbe- 
schränkt mit denselben zu beschäftigen, mithin 
auch sie ganz zu verbieten (auf welcher Befugnis 
eben die §5. 9—11 des G. v. 11. März 1850 
beruhen), ist ihr durch die in Rede stehenden 
Worte des Abs. 1 des Art. 29 hinsichtlich der 
Versammlungen in geschlossenen Räumen eine 
bestimmte Schranke gezogen, deren lberschreitung 
ihr verfassungsmäsiig nicht zusteht, nämlich die, 
daß sie solche Versammlungen niemals von der 
vorgängigen obrigkeitlichen Erlaubnis abhängig 
machen darf. Auodrücklich zu diesem Zwecke, um 
jedem Zweifel hierüber zu begegnen, wurde der 
bei der Revision des Art. 29 gestellte Antrag ab- 
gelehnt, die Worte: „ohne vorgängige obrigkeit= 
liche Erlaubnis“ im Abs. 1 des Art. 29 wegzu- 
lassen, und es wurde dieser Unterschied zwischen 
beiderlei Gattungen von Versammlungen noch 
deutlicher dadurch hervorgehoben, daß im Abs. 2 
des Art. 29 eine Anderung vorgenommen wurde, 
nämlich die, daß hinsichtlich der Versammlungen 
unter freiem Himmel ausdrücklich cingeschaltet 
wurde, daß es der Gesegebung zustehen solle, 
diese auch von der vorgängigen obrigkeitlichen. 
Erlaubnis abhängig zu machen (gl. den Bericht 
der Revisionskommission der II. Kammer in den 
Stenogr. Ber. 1849—50, Bd. II, S. 631, und 
die Erörterungen der Abgcordneten Graf v. Ar- 
nim und Simson, a. a. O., S. 649). 
18“
	        
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