Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Zweiter Band. (2)

Versammlungs- und Vereinsrecht. (S. 60.) 281 
Diesen Aufgaben hat die Polizei unter allen Umständen zu genügen, auch gegenüber 
Versammlungen und Vereinen; auch diese mühssen sich gefallen lassen, daß die Polizei 
ihres Amtes walte. In bezug auf die Sicherheits= und Gesundheitspolizei im gewöhn- 
lichen Sinne ist dies augenfüllig; denn wenn die Polizei den Zutritt zu einem Hause 
wegen dessen Baufälligkeit oder wegen Seuchengefahr Einzelnen verbieten darf, so wäre 
es widersinnig, daß sie einer Menschenmenge gegenüber dies Recht nicht haben sollte. 
Auf gleicher Stufe steht die Pflicht der Polizei zur Verhütung und Aufklärung von 
gemeingefährlichen und strafbaren Handlungen. Auch in dieser Hinsicht stellt das Gesetz 
keine Ausnahme für versammelte oder in Vereinen zusammengeschlossene Staatsbürger 
auf. Insbesondere unterliegen Versammlungen und Vereine auch in bezug auf das Ein- 
dringen der Polizei den allgemeinen Gesetzen. Sofern also die Zusammenkunft in einer 
Wohnung stattfindet, greifen die Vorschriften des Gesetzes vom 12. Februar 1850 und 
die §§. 102— 110 der Strafprozeßordnung auch gegenüber Versammlungen und Ver- 
einen Platz.“ 
Die Bestimmungen der Verordnung v. 11. März 1850 sind folgende: 
1. Von allen Versammlungen, in welchen öffentliche Angelegenheiten! er- 
örtert oder beraten werden sollen-?, hat der Unternehmer mindestens 24 Stunden 
vor dem Beginne der Versammlung, unter Angabe des Ortes und der Zeit derselben, 
Anzeige bei der Ortspolizeibehörde zu machen.? 
Diese Behörde hat darüber sofort eine 
  
1 Unter „öffentlichen Angelegenheiten“ sind 
nicht bloß solche zu verstehen, welche die Allge- 
meinheit der Staatsangehörigen betreffen; es 
können vielmehr unter Umständen als solche auch 
diejenigen betrachtet werden, welche eine vom 
Staate anerkannte, in ihrer Stellung gesetzlich 
geregelte Körperschaft (z. B. eine Gemeinde) und 
deren Rechtsverhältnisse betreffen (Beschluß des 
Obertribunals v. 8. Mai 1867, Oppenhoffs 
Rechtspr., Bd. VIII, S. 290, Goltdammers Archiv, 
Bd. XV, S. 489), s. auch S. 276, 277; ferner 
Schwartz, Verf. Urk., S. 381 f. 
*#) Nur auf solche Versammlungen, in welchen 
öffentliche Angelegenheiten erörtert werden sollen, 
findet der §. 1 der Verordnung Anwendung, und 
es rritt daher keine Strafbarkeit ein, wenn in 
einer etwa zu einem anderen Zwecke veranstalteten 
Versammlung von Einzelnen das Gebiet der 
politischen Erörterung betreten worden ist (Er- 
kenntnis des Obertribunals v. 5. Nov. 1874, 
Oppenhoffs Rechtspr., Bd. XV, S. 749). Ist die 
Versammlung zu einem anderen Zwecke berufen, 
beschäftigt sich aber tatsächlich mit eingehender 
Erörterung öffentlicher Angelegenheiten, so ist dies 
eine straffällige Umgehung des Gesetzes, s. Entsch. 
des O. V. G., Bd. XX, S. 432; Schwartz, 
Verf. Urk., S. 382 f. Vgl. auch die Strafbe- 
stimmung in §. 143 des Gesetzes, betreffend die 
Erwerbs= u. Wirtschaftsgenossenschaften v. 1. Mai 
1889 (R. G. B., S. 55). Zum Begriff Ver- 
sammlung s. auch die in der D. Jur. Ztg. 1903, 
S. 83, Nr. 3 mitgeteilte Entscheidung des Kammer- 
gerichts über religiöse Zusammenkünfte. Die Tages- 
ordnung braucht nicht angezeigt zu werden; ist 
dies doch geschehen und zwar in wahrheitswidriger 
Weise, um die Polizei zu täuschen, so kann hier- 
gegen — nach Ansicht des Kammergerichts — 
auf Grund des Vereinsgesetzes nicht mit Strafe 
eingeschritten werden. Die Vorschrift des §. 1 
beschränkt sich jedoch nicht auf öffentliche Ver- 
sammlungen, sondern es ist für ihre Anwendbar- 
keit gleichgÜltig, wie die Versammlung eingeladen 
  
oder zusammengebracht ist (Erkenntnis des Ober- 
tribunals v. 19. Nov. 1874, Oppenhoffs Rechtspr., 
Bd. XV, S. 794, Goltdammers Archiv, Bd. XXII, 
S.715). b) Zur Anwendung des §. 1 der Verord- 
nung kommt es nur darauf an, ob die Versamm- 
lung zur Erörterung oder Beratung öffentlicher 
Angelegenheiten dienen soll, dagegen ist es gleich- 
gültig, welchen Zweck der einzelne Redner bei 
der Besprechung der öffentlichen Angelegenheiten 
gehabt hat, namentlich ob er Dritte aufklären 
oder auf deren Willensbestimmung einwirken 
wollte; jede tatsächliche Besprechung solcher An- 
gelegenheiten als Zweck der Versammlung genügt 
(Erkenntnis des Obertribunals v. 3. Mai 1877, 
Oppenhoffs Rechtspr., Bd. XVIII, S. 318). Die 
bei der Einberufung der Versammlung vorwal- 
tende Absicht, öffentliche Angelegenheiten zu er- 
örtern, ist entscheidend; ob solche Erörterungen 
demnächst wirklich stattgefunden haben, ist un- 
erheblich (Erkenntnis des Obertribunals v. 
19. Febr. 1879, Oppenhoffs Rechtspr., Bd. XX, 
S. 2, Goltdammers Archiv, Bd. XXVII, S. 143). 
Vgl. hierher Delius, S. 43; dagegen Caspar, 
S. 75 f.; s. auch Schwartz, Verf. Urk., S. 380 ff. 
c) Über die Anwendbarkeit der Verordnung auf 
kirchliche und religiöse Versammlungen vgl. S. 282, 
Note 4, 284, 295. 
s Die Ortspolizeibehörde, welcher die Anzeige 
zu machen, ist in den Provinzen des Geltungs- 
bereiches der Kreisordnung v. 13. Dez. 1872 der 
Amtsvorsteher (s. 59 der Kreisordnung). Die 
Anzeige an den Schulzen ist nicht genügend 
(Erkenntnis des Obertribunals v. 7. Nov. 1867, 
Oppenhoffs Rechtspr., Bd. VIII, S. 681, Golt- 
dammers Archiv, Bd. XVI, S. 56). In den 
städtischen Polizeibezirken ist Ortspolizeibehörde 
entweder die königliche Polizeidirektion oder der 
Bürgermeister (Polizeiverwalter), je nach der Or- 
ganisation der Polizei in der betreffenden Stadt. 
In den Provinzen mit besonderen Rreisordnungen 
sind Ortspolizeibehörde: 1. in der Rheinprovinz 
die Bürgermeister; 2. in Westfalen die Amt-
	        
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