Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Zweiter Band. (2)

292 Das Staatsbürgerrecht. 
(§. 60.) 
ordnung die landesgesetzlichen Bestimmungen über das Verfahren bei Zuwiderhandlungen 
gegen die Gesetze über das Vereins= und Versammlungsrecht in Geltung geblieben sind. 
14. Die nach Maßgabe des Gesetzes v. 1. Mai 1889 begründeten sog. einge- 
tragenen Genossenschaften und deren Versammlungen unterliegen, neben den Sondervor- 
schriften jenes Gesetzes, in vereins= und versammlungspolizeilicher Hinsicht allen Vor- 
schriften des Vereinsgesetzes, dürfen aber weitergehenden polizeilichen Beschränkungen nicht 
unterworfen werden. 
IV. Alle polizeilichen Verfügungen, die auf Grund des Vereinsgesetzes oder der 
allgemeinen Gesetze hinsichtlich der Ausübung des Vereins= oder Versammlungerechtes ge- 
troffen werden, können auf dem Wege der verwaltungsrechtlichen Beschwerde, bezw. 
durch Klage im Verwaltungsstreitverfahren angefochten werden, so daß in letzter 
Instanz immer das Oberverwaltungsgericht zur Entscheidung in Fragen der Vereins= und 
Versammlungspolizei angerufen werden kann." Die näheren Ausführungen hierüber f. 
unten in der Darstellung der Verwaltungsgerichtsbarkeit. 
V. Die Reichsverfassung hat im Art. 4, Ziff. 16 ausgesprochen, daß die Be- 
stimmungen über das Vereinswesen der Beaufsichtigung seitens des Reiches und dessen Ge- 
setzgebung unterliegen 3; da indes bis jetzt ein Reichsgesetz, welches das Vercinswesen 
gleichmäßig, und insbesondere hinsichtlich der politischen Vereine, regelt, noch nicht er- 
gangen ist, so behält es bis dahin bei den betreffenden zu II. und III. erörterten Vor- 
schriften der Verfassungsurkunde und des Vereinsgesetzes v. 11. März 1850 sein Be- 
wenden, wie denn auch der §. 2 des Eirnführungsgesetzes v. 31. Mai 1870 zum 
Strafgesetzbuche" ausdrücklich ausgesprochen hat, daß die Bestimmungen der Landesgesetze 
über den Mißbrauch des Vereins= oder Versammlungsrechtes in Kraft erhalten werden. 
Für Einzelpunkte allerdings hat die Reichsgesetzgebung in die Materie eingegriffen, so 
durch das Verbot des Jesuitenordens, sowie durch die Aufhebung des landesgesetzlichen 
Verbindungsverbotes für inländische Vereine (s. darüber S. 287.) 
Die Reichsgesetzgebung hatte ferner sehr tief eingreifende Beschränkungen gegenüber 
den Bestimmungen der preußischen Verfassungsurkunde, beziehungsweise des Vereinsgesetzes 
v. 11. März 1850 durch den Erlaß des Reichsgesetzes v. 21. Okt. 1878 gegen die 
gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokraties angeordnet, dessen Geltung (zufolge 
des §. 30 desselben) bis zum 31. März 1881 dauern sollte, durch das Reichsgesetz v. 
31. Mai 1880 bis zum 30. Sept. 1884 erstreckt worden ist, das nunmehr aber seit 
dem 1. Okt. 1890 in vollem Umfange außer Kraft getreten ist. 10 
  
1 R. G. Bl. 1877, S. 346 ff. v. 21. Okt. 1878 waren folgende: 1. Vereine, 
* Diese Bestimmung hat den Zweck, bis zum 
Erlasse eines Reichsgesetzes über das Vereins- 
wesen diejenigen Vorschriften der Landesgesetze in 
Geltung zu erhalten, welche die polizeiliche 
Schließung eines Vereines unter die Kontrolle 
einer richterlichen Beschlußnahme stellen, wie die 
§§. 8 und 16 der Verordnung v. 11. März 1850 
dies vorschreiben. (Vgl. die Motive zum §. 6, 
Ziff. 3 des Einführungsgesetzes zur Strafprozeß= 
ordnung in den Stenogr. Ber. des Reichstages 
1874—75,. Bd. III, Aktenst. Nr. 5, S. 234.) 
2 Entsch. des O. V. G., Bd. XXIX, S. 447. 
4 L. V. G., 58. 127—129. 
5 Vgl. hierüber G. Meyer-Anschütz, D. 
Stoaterecht, 708. 
* B. G. Bl. 1870, S. 195. 
i liber biel — bis jetzt ergebnislos gebliebenen 
Anträge, um für das ganze Reich den Gegen- 
stand einheitlich zu regeln, vgl. v. Rönne, D. 
St. R., 2. Aufl., Bd. 1. S. 192 ff. 
* R. G. Bl. 1875, S. 351 f. 
i NR. G. Bl. 1880, S. 117. 
4% Die auf das Vercins= und Versammlungs- 
recht bezüglichen Bestimmungen der Reichegesetzes 
  
welche durch sozialdemokratische, sozialistische oder 
kommunistische Bestrebungen den Umsturz der 
bestehenden Staats= oder Gesellschaftsordnung 
bezwecken, sind zu verbieten. Dasselbe gilt von 
Vereinen, in welchen sozialdemokratische, sozia- 
listische oder kommunistische, auf den Umsturz 
der bestehenden Staats= oder Gesellschaftsordnung 
gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen. 
Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölke- 
rungsklassen gefährdenden Weise zutage trcten. 
Den Vereinen stehen gleich Verbindungen jeder Art 
(§. 1 des Ges.). Auf eingetragene Genossenschaften 
findet im Falle des §. 1, Abs. 2 der S. 35 des 
G. v. 4. Juli 1868, betreffend die privatrechtliche 
Stellung der Erwerbs- und Wirtschaftsgenossen- 
schaften (B. G. Bl. 1868, S. 415 ff.) An- 
wendung. Auf eingeschriebene Hilfskassen findet 
im gleichen Falle der §. 29 des Gesetzes über 
die eingeschriebenen Hilfskassen v. 7. April 1876 
(R. G. Bl. 1876, S. 125 ff.) Anwendung (5§. 2). 
Selbständige Kassenvereine Cnicht eingeschricbene), 
welche nach ihren Statuten die gegenseitige Unter- 
stützung ihrer Mitglieder bezwecken, sind im Falle 
des §. 1, Abs. 2 zunächst nicht zu verbicten,
	        
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