46 Das Staatsbürgerrecht. (8. 51.)
punkte stellte, nicht allein für die Vertragschließenden der Bundesakte unter sich, sondern
auch den durch diesen gewiß notwendigen, aber unter allen Umständen grausamen Prozeß
der Weltgeschichte Betroffenen gegenüber, „auf Grund ihrer früheren staatsrechtlichen
Stellung und der von ihnen besessenen Landeshoheit“, wie das Gesetz v. 10. Juni 1854
das ausdrücklich ausspricht.1
Allerdings läßt sich nicht behaupten, daß die ohne Berücksichtigung der standesherr-
lichen Privilegien ergangenen Staatsgesetze nichtig seien, aber sie verletzen „aus souveräner
Macht und Gewalt“ den den Standesherren als letzten Uberrest ihrer eigenen staats-
rechtlichen Unabhängigkeit vorbehaltenen Rechtsanspruch, daß sie für einzelne Zweige des
Staatslebens bei der Rechtsbildung gehört werden und Neuordnungen in diesen Dingen
für ihre Standesherrschaften nur mit ihrer Zustimmung eingeführt werden sollen.
Der Rechtsgedanke, der dieser staatsrechtlichen Stellung der Standesherren zugrunde
liegt, ist völlig der gleiche, wie ihn Art. 78, Abs. 2 der Reichsverfassung für das Ver-
hältnis einiger Einzelstaaten zum Reiche, für die sog. Reservatrechte, zum Ausdruck ge-
bracht hat.
Die preußische Gesetzgebung hat in der Zeit vor Erlaß der Verfassungsurkunde
diesen rechtlichen Gesichtspunkten sorgsamste Rechnung getragen und staatliche Rechts-
satzungen auf den vorbehaltenen Gebieten nur erlassen auf Grund vorher erfolgter Zu-
stimmung der Standesherren, auf Grund „vertragsmäßiger“ Abmachungen (s. hierüber
oben III). Der unhistorische Radikalismus von 1848 betrachtete selbstverständlich
derartige Vor= und Sonderrechte als Verstoß gegen die „Gleichheit vor dem Gesetz“
und beseitigte sie oder betrachtete sie als nicht mehr vorhanden, so lange er dazu die
Macht hatte. Die Gesetzgebung der fünfziger Jahre befolgte dann wieder die richtigen
Gesichtspunkte (s. hierüber S. 31 f.), indes die Gesetzgebung der siebziger Jahre,
sowohl die Reichs= als die Landesgesetzgebung, wieder zum Teil ohne Rücksicht auf die
grundsätzlich zugunsten der Standesherren gemachten Vorbehalte „aus souveräner Macht
und Gewalt“ voranschritt. Rechtsgültig und rechtsverbindlich sind derartige Gesetze,
auch für die Standesherren, zweifellos; aber sie verletzen die Gerechtigkeit, ohne daß
diese Verletzung mit einem Rechtsmittel angefochten werden könnte. Die neueste Gesetz-
gebung, sowohl auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechtes wie des Steuerwesens, hat
die Gesichtspunkte der Gerechtigkeit den Standesherren gegenüber wieder streng beobachtet.
Die notwendige Staatsentwicklung freilich darf durch derartige „veraltete“ Sonderrechte
nicht aufgehalten oder gehemmt werden; würde solches versucht, so müßte der Staat,
allerdings „aus souveräner Macht und Gewalt“, über sie hinwegschreiten; im übrigen
aber ist der Staat moralisch und rechtlich verpflichtet, die einschlägigen Teile seiner Ge-
setzgebung unter Berücksichtigung jener Vorbehalte zu gestalten, beziehungsweise fortzu-
entwickeln. Dies ist nicht geschehen beim Reichsgerichtsverfassungsgesetz, welches ohne
jede Berücksichtigung des standesherrlichen Sonderrechtes die letzten Reste der standesherr-
lichen Gerichtsbarkeit aufhob.: In gleicher Weise ist vorgegangen worden bei Einführung
Ubereinst. Zöpfl, Standesherren, S. 202 ff.; tanen eines Bundesstaates verbindlich wurde. Die
G. A. Zachariä, Denkschr. (1867), S. 82 ff.; Rechte der Standesherren haben ihren Grund in
H. Schulze, D. St. R. I, S. 401 ff.; Heyer, der Verfassung des Bundes, nicht aber in einem
S. 90 ff.: Hammann, S. 58 ff. Dagegen von dem Bundesbestande unabhängigen Rechts-
besonders G. Meyer, St. R., 5. Aufl., S. 754, titel, wie die herrschendd Meinung annimmt.“
N. 9; Seydel, Bayr. St. RN. 1, S. 321 ff.; Es ist hier verkannt, daß der Rechtstitel für die
Bornhak,I, S. 299, 305; Störkin Holtzendorffs Vorzugsstellung das aus historischer Kontinuität
Enzyklop., S. 1133 sowie die Monographien von und Gerechtigkeit erwachsene landesrechtliche
Rohmer (1893) u. Scholly (1894); vgl. auch Privileg ist, für das der Art. XIV. der Bun-
O. Mayer im Arch. f. öffentl. Recht III. S. 42, desakte nur die Bedentung der politischen Ver-
N. 59. Nicht beachtet ist dieser wesentliche Ge- anlassung haben konnte.
sichtspunkt von Ernst Müller, Hat der Staat Vgl. Stenogr. Ber. d. Reichstags 1874—75
das Recht, die Standesherren zur Einkommen= Anl. III, S. 33. Verhandl. II, S. 208 f., III,
steuer heranzuziehen? (1892) „Der Deutsche Bund. S. 34. Den richtigen Rechtsstandpunkt vertraten
welcher die Rechte der Standesherren garantiert gegen den Regier.-Komm. v. Amsberg die Abg.
hatte, ist nunmehr aufgelöst und mit ihm seine Windthorst u. besonders der berühmte Rechts-
Gesetzgebung, insbesondere seine Verfassung, so- lehrer v. Schulte.
weit sie nicht durch Landesgesetz für die Unter