618 Die Staatsbehörden. (G. 95.)
Unverkennbar tritt uns in jenen Eimichtungen, die fast sämtlich aus der früheren
patriarchalisch-absoluten Zeit des Preußischen Staates herstammen, ein Stück sozialer
Fürsorge des Staates entgegen, das in seinem Grundgedanken zusammentrifft mit
den Forderungen und Bestrebungen sozialer Staatstätigkeit, wie sie insbesondere seit der
Allerhöchsten Botschaft v. 17. Nov. 1881 unser öffentliches Leben erfüllen. Auf einer
einheitlichen Gesetzgebung beruhen jene Einrichtungen nicht; weder sind sie auf einer
solchen aufgebaut, noch hat eine mehr als ein Jahrhundert umfassende Praxis zu einer
solchen geführt; im Gegenteil weisen die in Frage stehenden Einrichtungen eine fast un-
übersehbare Vielgestaltigkeit auf, die nur erklärbar ist, weil es sich um Geschäftsbetriebe
handelt. Aber auch so ist der bestehende Zustand in keiner Weise zu rechtfertigen.! Auch
die Wissenschaft hat sich mit der juristischen Erfassung jener Gestaltungen des Lebens
nicht genügend beschäftigt; bei dem gewaltigen Ubergewicht des Privatrechtes in der
Wissenschaft wie im akademischen Lehrbetrieb und in der Ausbildung der Juristen ist es
nicht verwunderlich, daß man im Zweifel unter Außerachtlassung der verwaltungsrecht-
lichen Momente lediglich den privatrechtlichen Charakter des „Geschäfts“ als maßgebend
betrachtete.?
IIII. Versucht man die Grundgedanken jener Einrichtungen zu gewinnen, so dürfte
sich folgendes für die juristische Konstruktion ergeben:
1. Die einzelnen Geschäfte, die jene Austalten machen, tragen privatrecht-
lichen Charakter und unterscheiden sich rechtlich nicht von den gleichen Geschäften, welche
Privatpersonen oder privatrechtliche Vereinigungen machen , stehen somit als einzelne
lediglich unter den Normen des Privat-(Handels-Rechtes genau so wie die Bankgeschäfte
der Reichsbank, beziehungsweise das Versicherungsgeschäft bei Privatunternehmungen;
2. die Gesamtheit der Geschäfte aber hat nicht den privaten Erwerb zum End-
zweck, sondern die Pflege der Wohlfahrt des Volkes, das „gemeine Beste“, trägt
somit nicht privatrechtlichen, sondern öffentlichrechtlichen Charakter.
Aus dem letzteren Gesichtspunkt ergeben sich, in weitgehender Beschränkung des ersteren,
folgende verwaltungsrechtliche Momente:
a) Die Organisation dieser Anstalten ist in mehr oder minder weitem Um-
fang von Staats wegen vorgeschrieben und trägt vielmehr den Charakter staat-
licher Behördenorganisation als eines privatrechtlichen Gewerbebetriebes; demgemäß
unterstehen (Gew. O. 88§. 6, 14) zwar die Versicherungsagenten, nicht aber die Ber-
sicherungsgeschäfte, selbst nicht die privaten, der allgemeinen Gewerbeordnung;
b) die Beamten dieser Institute sind zwar nicht Staatsbeamte, haben aber den
Charakter von mittelbaren Staatsdienern und unterstehen demgemäß dem staatlichen Dis-
ziplinarrecht";
) die allgemeine Staatsaufsicht reicht weit über die allgemeine oder besondere
Gewerbepolizei hinaus und ist wesentlich eine Dienstaufsicht vorgeordneter Be-
hörden auf Grund besonderer staatlicher Rechtsvorschriften 2, die die Grundlage der
Spezialvorschriften bilden, welche den Rechtscharakter autonomischer Statuten tragen;
1 Das Staatshandbuch verzeichnet in dankens-
werter Weise bei jeder dieser Anstalten das für
sie bestehende Rechtsmaterial. Eine von der Ost-
preuß. Landschaft aus Anlaß ihrer Jahrhundert-
feier im J. 1888 veröffentlichte Denkschrift gibt
in der Darstellung der Geschichte dieser Provinzial-
landschaft einen vortrefflichen Einblick in die Grund-
gedanken der Gesamtentwicklung dieser für den älteren
Preußischen Staat so charakteristischen Institute.
Die verwaltungsrechtlichen Werke handeln
wenig über die prinzipielle Seite der Materie.
Vgl. Löning, Verw. R., S. 649, 673; G. Meyer,
Verw. R., S. 502; Rosin, Recht d. öffentl. Ge-
nossensch., S. 92; Löning und besonders Rosin
erkennen das öffentlichrechtliche Moment an, G.
Meyer lehnt es einfach ab.
* Vgl. hierher Entsch. d. Reichsoberhandelsger.,
Bd.IX, S.132b. R. Ger. i. Zivils., Bd.XXXXVIII,
S. 332 ff.
4 S. hierzu oben, Bd. I, S. 422, 423.
* Kab. O. v. 30. Mai 1841 (G. S., S. 122
mit Ges. v. 8. Mai 1837 (G. S., S. 102) über
die Norwendigkeit der polizeilichen Genehmigung
aller Policen; dazu dann umfassende statutarische
Vorschriften über die Staatsaufficht bei den öffentl.
Anstalten.