Die Militärgerichtsbarkeit. (8. 106.) 723
wenn in Gemäßheit des Art. 111 der Verfassungsurkunde und des Gesetzes v. 4. Juni. 1851
ein Ort oder Bezirk in Belagerungszustand erklärt wird, unter Suspension des Art. 7 der
Verfassungsurkunde außerordentliche Kriegsgerichte angeordnet werden, über deren Einrich-
tung, Zuständigkeit und Verfahren das erwähnte Gesetz die näheren Bestimmungen erteilt.1
4. Wenn zwischen Militär= und Zivilpersonen Beleidigungen oder Tätlichkeiten
wechselseitig vorfielen, oder wenn ein Verbrechen von Militär= und Zivilpersonen gemein-
schaftlich verübt wurde, so mußte die Untersuchung von einem aus Militär= und Ziodvil-
gerichtspersonen zusammengesetzten Gerichte geführt werden, dessen Militärmitglieder der
kompetente Gerichtsherr ernannte. In diesem gemeinschaftlichen Untersuchungsgerichte hatte
der höchste kommandierte Offizier den Vorrang. Nach beendigter Untersuchung war zuerst
gegen die angeklagten Militärpersonen von dem Militärgerichte zu erkennen. Wenn be-
sondere Umstände ein anderes erforderten, so war darilber die Entscheidung des Königs
durch das Generalauditoriat einzuholen.
5. Wenn ein Zivilgericht in Untersuchungen gegen Personen des Soldatenstandes
auf Ersuchen des Militärgerichts tätig war, so sollte, soweit dies ohne Schwierigkeit
und ohne Kostenaufwand geschehen konnte, unter Berücksichtigung des Rangverhältnisses
des Angeschuldigten ein Offizier zugezogen werden.
IV. Das System der Militärgerichtsbarkeit nach dem geltenden Rechte
ist folgendes:
A. Der Millitärstrafgerichtsbarkeit unterworfen sind folgende Personenkategorien
(Militärstrafgerichtsordnung, §. 1): die Militärpersonen des aktiven Heeres und der aktiven
Marine; die zur Disposition gestellten? Offiziere, Sanitätsoffiziere und Ingenieure des
Soldatenstandes; die Studierenden der Kaiser-Wilhelms-Akademie; die Schiffsjungen
während der Dauer der Einschiffung; die in militärischen Anstalten versorgten invaliden
Offiziere und Mannschaften; die Offiziere und Sanitätsoffiziere à la suite, die nach
dem Ausscheiden aus dem Soldatenstand zu vorübergehender Dienstleistung einberufen
sind; die verabschiedeten Offiziere, Sanitätsoffiziere und Ingenieure des Soldatenstandes,
die im aktiven Dienste wieder verwendet werden; die im Militärstrafgesetzbuch, 8§. 155,
157, 158, 166 aufgeführten Personen, solange sie den Militärstrafgesetzen unter-
worfen sind.
Endlich wegen der besonderen Delikte, die im Gesetz aufgeführt sind, die in der
Militärstrafgerichtsordnung, §. 5 angegebenen Personenkategorien, nämlich Personen des
Beurlaubtenstandes, Offiziere und Sanitätsoffiziere à la suite, Ausländer und Deutsche
wegen der im Militärstrafgesetzbuch, §§. 160, 161 aufgeführten Delikte.
Uber die Abgrenzung der Militärstrafgerichtsbarkeit von der bürgerlichen Straf-
gerichtsbarkeit s. Militärstrafgerichtsordnung, §§. 2—4, 6—11.
B. Die Militärgerichtsgewalt wird als ein Bestandteil der Befehlsgewalt betrachtet;
sie würde demnach verfassungsgemäß zu den Rechten des Kaisers gehören, nur für Bayern
in Friedenszeiten Recht des Königs sein.“
1 Vgl. hierüber Haldy, Der Belagerungs-
zustand in Preußen (Abhandl. aus dem Staats-
verwaltungs= und Völkerrecht, hrsg. v. Ph. Zorn
und F. Stier-Somlo, Bd. II, Heft 2) 1906,
S. 58 ff.
Militärstrafgesetzb., Tl. II, ss. 52, 53,
welche Bestimmungen nach dem Beschlusse des
Ob. Triv. v. 5. Mai 1858 durch den Art. 147
des Ges. v. 3. Mai 1852 (G. S. 1852, S. 243)
nicht aufgehoben sind, deren praktische Bedeutung
aber durch die Bestimmung des §. 65 der D.
Strafprozeßordn., wonach die Vereidigung der
Zeugen regelmäßig erst in der Hauptverhandlung
erfolgen solle, verändert ist, indem die Berufung
des gemischten Gerichts keinen Zweck hat, wenn
die Voraussetzungen nicht zutreffen, welche den
Zivilrichter ermächtigen, ausnahmsweise die Be-
eidigung der Zeugen schon im Vorverfahren her-
beizuführen, denn unbeeidigte Zeugenaussagen
sind für das militärische Spruchgericht ohne Wert.
Vgl. Jahrbuch der preuß. Gerichtsverf., Jahrg. XV
(1882), S. 106, Note 1.
s Militärstrafgesetzb., Tl. II, §. 51.
* Vgl. Laband, Bd. IV, S. 107 ff., v. Marck,
Militärstrafprozeß (1893), v. Kries im Archiv
für öffentl. Recht, Bd. V, S. 373 ff., Schlayer,
Militärstrafrecht 1904.
5 Die verabschiedeten Offiziere seit Gesetz v.
3. Mai 1990 (R. G. Bl., S. 63) nicht mehr.
* Vgl. A. A. Laband, Bd. IV, S. 109. S.
dazu die umfangreiche Literatur des Reichsstaats-
rechtes über die fundamentale Frage der Kontingents-
gewalt, die bei Laband, Bd. IUV, S. 1 ff. ver-
zeichnet ist.
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