Grundpflichten und Grundrechte. (§. 53.) 87
Aus dem Wesen des Rechtsstaates folgt die Befugnis jedes Staatsbürgers, sich
deshalb mit Bitten und Anträgen an die zuständigen Staatsorgane wenden zu dürfen.1
Das Recht der Beschwerde und Petition bei der Landesvertretung kann als ein besonderes
formelles Recht zum Schutze konstitutioneller Rechte nur Staatsangehörigen zustehen.
Der Art. 32 der Verfassungsurkunde spricht daher auch nur von dem Rechte der „Preußen“,
an deren Stelle jetzt nach Reichsverf. Art. 3 die Deutschen getreten sind. Daraus folgt,
daß die Kammern keineswegs verpflichtet sind, sich mit bei ihnen eingehenden Be-
schwerden oder Petitionen fremder Staatsangehörigen zu befassen. Es kann indes nicht
zweifelhaft sein, daß den Kammern, wenn sie es für zweckmäßig erachten, auch das
Recht zusteht, Beschwerden und Petitionen Fremder zum Gegenstande ihrer Prüfung
zu machen und solche der Staatsregierung zur Berücksichtigung zu überweisen, die Staats-
regierung aber hat keine verfassungsmäßige Pflicht, sich mit Petitionen von Staats-
fremden zu beschäftigen. Werden solche vom Landtag der Regierung überwiesen, so
handelt es sich für letztere nur um eine von der Volksvertretung ausgegangene Anregung,
nicht aber um Ausübung des verfassungsmäßigen Petitionsrechtes.? Dies Recht zerfällt
in die Beschwerde, wenn nämlich verlangt wird, daß eine bereits begangene Ungerech-
tigkeit oder Unzuträglichkeit von der Staatsbehörde wieder beseitigt werde, und in die
Petition, wenn die Volksvertretung angerufen wird. Das preußische Staatsrecht er-
kennt beide Rechte an; indes enthält der Art. 30 der Verfassungsurkunde in betreff des
Petitionsrechtes die Einschränkung, daß den Personen des Heeres“ ein solches nur insofern
zustehen soll, als die militärischen Gesetze und Dienstvorschriften nicht entgegenstehen.
Staatslexikon, 3. Aufl., Bd. XI, S. 459 ff.;
R. v. Mohl, St. R., Völkerrecht und Politik,
Bd. I. S. 222 ff., und in der Tübinger Zeit-
schrift für die Staatswissensch., Bd. IV, S. 137 ff.;
Bluntschli, Allgem. St. R., 2. Aufl., Bd. II,
S. 515 ff.; Zachariä, D. St. u. B. R., 3. Aufl.,
Bd. I, S. 465—468; Zöpfl, Grunds. des gem.
d. St. R., 5. Aufl., Bd. II, S. 441 ff.; Held,
System des Verf. R., Bd. II, S. 621 ff.; Grote-
fend, Das d. St. R. der Gegenwart, S. 484 ff.;
G. Meyer, Lehrb. des d. St. R., S. 267,
715, 737 ff.; H. Schultze, Pr. St. R.,
Bd. II, S. 641 f., 669 f.; Bornhak, Pr. St. R.,
Bd. Ll. S.429, Bd. II, S. 467 ff., Bd. III, S. 151;
Laband, St. R. d. R. I, 282 ff.; Zorn,
St. R. d. R. I, 241, 245; Arndt, R. St. R.
S. 116; Schwartz, Verf. Urk., S. 110 f.;
E. v. Meier in Holtzendorffs R. Lex., Bd. III, S.
40 ff. Über die betr. Bestimmungen des St. R.
außerdeutscher Länder vgl. v. Mohl in der oben
erwähnten Abhandl., S. 234 ff. — Über das eng-
lische Petitionsrecht siehe Hatschek, Engl. St. R.
Bd. 1 (1905) S. 391 ff., vgl. auch Bornhak,
Das Petitionsrecht im Arch. f. ö. R., Bd. XVI,
S. 403—24, wo auch eine kurze Geschichte des
Rechts gegeben und daran erinnert ist, daß durch
das preuß. G. v. 5. Juni 1823 den Provinzial=
ständen die Befugnis beigelegt war, Bitten und
Beschwerden, welche auf das spezielle Wohl und
Interesse der ganzen Provinz oder eines Teiles
derselben Bezug hätten, an den König gelangen
zu lassen, daß dagegen das Patent v. 3. Febr.
1847 im §. 20 die ausdrückliche Bestimmung
enthält, Bitten und Beschwerden dürften bei dem
Vereinigten Landtage von anderen als Mitgliedern
desselben weder angebracht noch zugelassen werden.
Erst Art. 32 Verf. Urk. hat hier Wandel ge-
schaffen.
1 Daß dies in deutscher Sprache geschehen
müsse und insbesondere nicht in polnischer
Sprache geschehen dürfe, ist von dem Hause der
Abg. in der Sitz. v. 11. Okt. 1862 sowie auch
späterhin wiederholt ausgesprochen worden. UVgl.
den Komm. Ber. v. 11. Sept. 1862 in den
Stenogr. Ber. des (neugewählten) Abg. H. 1862,
Bd. VIII, S. 1555—56, und die Verhandl. dar-
über in den Stenogr. Ber., Bd. IV, S. 2227—32.
* Vgl. die Erklärung des Abg. Strohn in
den Stenogr. Ber. des Abg. H. 1860, Bd. I,
S. 83 u. 722, welcher von keiner Seite wider-
sprochen worden; ferner Held, System des Verf.
R., Teil II, S. 621—622, und v. Mohl,
Staatsrecht u. Völkerrecht, Bd. I, S. 227—228.
Letzterer scheint der Landesvertretung die Be-
rechtigung absprechen zu wollen, Beschwerden
Fremder zum Gegenstande ihrer Verhandlung zu
machen, dies geht zu weit. Ubereinstimmend mit
der hier vertretenen Ansicht Löning, Das Peti-
tionsrecht der Ausländer und die Zuständigkeit
des Landtags nach preuß. Verfassungsrechte, „Ver-
waltungsarchiv“ Bd. 13, S. 1 ff. Er erklärt
beide Häuser des Landtages für zuständig, aber
nicht verpflichtet, Petitionen anzunehmen, zu be-
raten und darüber Beschluß zu fassen, ohne
Unterschied, ob sie von preuß. Staatsangehörigen
oder von Ausländern unterzeichnet sind (S. 31).
3 Petition im weitesten Sinne ist jedes Be-
gehren, jede Bitte, jeder Antrag. Im engeren
Sinne versteht man darunter nur die an die
Kammern gerichteten Vorstellungen, Bitten und
Antrräge. Sie können Gesuche um Abhilfe von
Beschwerden, oder auch andere Anträge um Maß-
regeln für das öffentliche Wohl enthalten.
4 Das Heer begreift nach Art. 35 der Verf.
Urk. alle Abteilungen des stehenden Heeres und
der Landwehr. Die Bestimmung des Art. 39
der Verf. Urk. wird auf alle Personen des aktiven
Dienststandes in Heer und Marine, sowie auf
alle zum Dienst einberufenen Mannschaften an-
zuwenden sein; die Wortinterpretation würde