88 Das Staatsbürgerrecht. (8. 53.)
A. Recht der Beschwerdeführung.
Jedem Staatsbürger steht die Befugnis zu, sowohl seine Privatrechte, als auch
seine aus dem Staatsbürgerrechte abzuleitenden öffentlichen Rechte durch das Mittel der
Beschwerde zu verteidigen, und zwar kann dies Recht sowohl durch Anrufung des
Königs und der höheren Staatsbehörden, als auch im Wege der Bitte um Schutz bei
der Volksvertretung ausgeübt werden.
1. Beschwerdeführung bei dem Könige und den höheren Staatsbehörden.
Dieses Recht ist zwar in der Verfassungsurkunde nicht ausdrücklich erwähnt; dasselbe
ist indes unzweifelhafter allgemeiner Rechtsgrundsatz und überdies auch von der Spezial—
gesetzgebung ausdrücklich anerkannt und näher festgestellt worden. Die Gesetze machen
den Behörden zur Pflicht, alle bei ihnen angebrachten Beschwerden über gesetz= und ord-
nungswidriges Verfahren der ihnen untergeordneten Instanzen, oder über Verzögerungen
unweigerlich anzunehmen und sorgfältig zu prüfen, denselben, insofern sie begründet sind,
mit Nachdruck abzuhelfen, wenn sie aber unbegründet befunden werden, den Bittsteller
„mit Glimpf, Mäßigung und Herablassung zu seinen Fähigkeiten und Begriffen zu be-
deuten und zurecht zu weisen"“. Durch §. 2 des Pat. v. 29. Juli 1794 (Mylius, N.
C. C. Tom. IX, p. 2381, und Rabes Samml., Bd. II. S. 668), wird den Behörden
„gemessenst zur Pflicht gemacht, die Beschwerden schleunig, gewissenhaft und unparteiisch
zu untersuchen, und darüber nach Pflicht und Gewissen, ohne Ansehen der Person, zu
entscheiden“. Auch der §. 180 A. L. R., Tl. II, Tit. 20 hatte bestimmt, „daß alle obrig-
keitliche Personen, besonders aber die Vorgesetzten, die Magistrate, Gerichte und andere
Kollegien schuldig sind, einen jeden, welcher sich in Angelegenheiten ihres Amtes bei
ihnen meldet, persönlich zu hören, und auf schleunige Untersuchung und Abhelfung ge-
gründeter Beschwerden bedacht zu sein“. Diese Grundsätze gelten auch heute noch
und sind ein unbedingt feststehendes Staatsgrundprinzip in Preußen jeder-
zeit gewesen und geblieben.! Es handelt sich hier um die sog. formlose Verwaltungs-
beschwerde, der die in der neueren preußischen Gesetzgebung ausgebildete formelle Rechts-
beschwerde und die Verwaltungsklage gegenüberstehen. Die wesentlichsten Bestimmungen über
die Ausübung dieses an sich unbeschränkten Rechtes der formlosen Beschwerde sind folgende:
Es soll ein jeder seine Gesuche und Anträge zunächst bei der Behörde anbringen,
zu deren Verwaltung die Sachen, welche sie zum Gegenstande haben, gehören; die Be-
schwerden über diese Behörden aber müssen bei der zunächst vorgesetzten Instanz derselben
angebracht werden und den gesetzlichen Instanzenzug für Beschwerdesachen innehalten,
so daß sie mithin an die Ministerien? nicht eher gelangen dürfen, als nachdem vorher
die diesen untergeordneten Behörden vergeblich angegangen worden sind. Demjenigen
aber, welcher von dem zuständigen Ministerium zurückgewiesen und dennoch von seinem
Unrechte oder von der Unzulässigkeit seines Gesuches nicht überzeugt ist, steht endlich
der Weg zum Throne offen. Auch dieser Rechtsgrundsatz hat allezeit einen
Fundamentalsatz des preußischen Staatsrechtes gebildet: jedem Untertan
steht, allerdings in den Schranken bestimmter Formen, das Recht zu, sich
an den König zu wenden und Hilfe und Schutz zu erbitten; die preußischen
Könige haben allezeit strenge darauf gehalten, daß ihren Landeskindern
dies Recht gewahrt bleibt. Nur in rechtskräftig abgeurteilten Rechtsstreitigkeiten
dürfen Beschwerden nicht erhoben werden. Diese Vorschrift ergibt sich aus der ver-
fassungsmäßigen Stellung der Gerichte. Es versteht sich indes von selbst, daß sie keinen
Bezug hat auf das dem König verfassungsmäßig zustehende Begnadigungerecht.
eine überaus weitgehende Einschränkung des dieser Beziehung vgl. 8§. 7 u. 8 der Instr. v.
Petitionsrechtes enthalten, die gewiß nicht ge 31. Dez. 1825 für die Oberpräsidenten (G.
wollt war, ja als ein Widerspruch gegen das kon= S. 1826, S. 3), s. dazu auch im Verwal-=
stitutionelle Prinzip bezeichnet werden müßte. tungsrecht.
1 Vgl. die älteren Rechtsmaterialien bei v. 3 Die durch den Art. 86 der Verf. Urk. ga-
Rönne, 4. Aufl., Bd. II. S. 177, Anm. 2. rantierte Unabhängigkeit der Gerichte hat zur
* liber die Stellung der Oberpräsidenten in Folge, daß weder der Rönig, noch die oberen