90 Die Gesetzgebung. (§. 117.)
geordneten erschwerenden Form, abgeändert werden kann, so ergibt sich daraus nur, daß
die vorgeschriebenen erschwerenden Bedingungen bei allen in dem Staatsgrundgesetze
selbst sowie bei allen in verfassungsmäßig zustande gekommenen Verfassungsände-
rungsgesetzen enthaltenen Punkten beobachtet werden müssen; keineswegs aber kann
angenommen werden, daß der Ausdruck: „Verfassung“ in Art. 107 den Sinn habe, daß
darunter alle staatsrechtlichen Verhältnisse zu verstehen seien, welche, ohne in der schriftlichen
Verfassungsurkunde aufgezeichnet zu sein, einen Bestandteil der Verfassung des Landes bilden.
Der Ausdruck: „Verfassung“ ist vielmehr in Art. 107 im engeren Sinne gebraucht,
nämlich als gleichbedeutend mit: „Staatsgrundgesetz“ oder: „Verfassungsurkunde“ 1, also
in demselben Sinne wie im Eingange der Verfassungsurkunde 2, welcher ergibt, daß auch
die Bestimmung des Art. 107 derselben nur auf dasjenige bezogen werden kann, was
eben durch die Verfassung (das Staatsgrundgesetz) festgesetzt oder anerkannt worden
ist. Gesetze also, welche nicht den Inhalt der Verfassungsurkunde oder späterer, der
Verfassungsurkunde gleich zu achtender Verfassungsänderungs= oder Zusatzgesetze berühren,
erfordern selbst dann nicht die in Art. 107 vorgeschriebene zweimalige Abstimmung, wenn
ihr Inhalt von solcher Beschaffenheit ist, daß dadurch Rechtsverhältnisse, welche gleich-
falls zur Verfassung des Landes gehören, d. h. die Stellung der Staatsteilnehmer zur
Staatsgewalt bestimmen, verändert oder neu geordnet werden. 3
Wenn bei der Beratung eines Gesetzvorschlages die Frage streitig wird, ob ein be-
stimmter Punkt mit der Verfassung (dem Staatsgrundgesetze oder den ihm gleich gestellten
Gesetzen) unvereinbar sei, ob es daher zur Beschlußnahme hierüber einer Abänderung
der Verfassung bedürfe, so kann nicht die Ansicht einzelner entscheiden, sondern es muß
von den Kammern entschieden werden, und zwar, da keine Ausnahme für diesen Fall
vorgeschrieben ist, durch einen den Vorschriften des Art. 80 der Verfassungsurkunde ent-
sprechenden Beschluß, also durch absolute Stimmenmehrheit bei Anwesenheit der beschluß-
fähigen Anzahl der Mitglieder des betreffenden Hauses.4
Wenn ein Punkt der Verfassung dunkel ist und zur Behebung des Zweifels eine
authentische Auslegung (Deklaration) für erforderlich erachtet wird, so kann solche
nur von sämtlichen Faktoren der Gesetzgebung gemeinschaftlich erfolgen, und zwar bedarf
1 Vgl. über die Begriffe von „Verfassung“ grundgesetz, sondern sind einfache Gesetze
im weiteren und engeren Sinne Bd. I, S. 4f.
Mit dem Text übereinstimmend Schwartz, Verf.
Urk., S. 336; Bornhak?, I, S. 558.
2 Die Verkündigungsformel der Verf. Urk. v.
31. Jan. 1850 sagt nämlich: „daß, nachdem die
oktroy. Verfassung v. 5. Dez. 1848 der darin
angeordneten Revision unterworfen worden und
die Verfassung in Ubereinstimmung mit den
Kammern endgültig festgestellt sei, dieselbe als
Staatsgrundgesetz verkündet werde.“ Es ist
also der Ausdruck: „Verfassung“ hier — wie
überall in der Verf. Urk. — im engeren Sinne,
nämlich gleichbedeutend mit: „Verfassungsurkunde“
genommen worden.
3 Obgleich die Verf. Urk. v. 31. Jan. 1850
nicht die Gesamtheit der in Preußen gelten-
den Verfassungsnormen enthält, so ist sie doch
das alleinige Staatsgrundgesetz Preußens,
und unter den Garantien dieses Staats-
grundgesetzes, also insbesondere unter dem
Schutze des Art. 107 desselben, stehen nur dessen
eigene Bestimmungen und diejenigen später zu-
stande gekommenen Verfassungsänderungs= und
Zusatzgesetze, welche die Natur des Staats-
grundgesetzes haben. Alle übrigen älteren und
neueren Gesetze, welche außerdem bestehen, ge-
hören nicht in dieselbe Kategorie, wie das Staats-
oder Verordnungen, die zwar zum Teil auch
Bestimmungen über Verfassungsgegenstände
enthalten, aber in betreff der durch den Art. 107
gewährleisteten Form ihrer Abänderung nicht auf
gleicher Linie mit den Verfassungsnormen
stehen.
4 Finden beide Häuser keinen Widerspruch
zwischen der Verfassung und dem zur Beratung
gestellten Spezialgesetze, so steht nichts entgegen,
das im übrigen vereinbarte Gesetz in Kraft treten
zu lassen und der abweichenden Minderheit des
Hauses bleibt dann nur das Recht, ihre ab-
weichende Ansicht in einem Sondergutachten (als
Protest) niederzulegen. Nehmen beide Häuser den
Widerspruch als vorhanden an, so folgt daraus
von selbst, daß eine Verfassungsänderung auf
verfassungsmäßigem Wege zustande kommen muß.
Dagegen kann auch der Fall eintreten, daß das
eine Haus keinen Widerspruch findet, während
das andere Haus einen solchen als vorhanden
annimmt; alsdann kann das Spezialgesetz nicht
zustande kommen, sondern müßte von dem den
Widerspruch annehmenden Hause bis dahin ab-
gelehnt werden, wo dieser Widerspruch durch Ver-
einbarung über eine denselben ausschließende
anderweitige Verfassungsbestimmung behoben sein
würde.