Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Dritter Band. Erste Abteilung. (3_1)

110 Die Gesetzgebung. (§. 118.) 
ein Widerspruch besteht. Die verfassungsmäßig bestehende Notwendigkeit der Feststellung 
des Staatshaushaltsgesetzes vor Beginn des Etatsjahres ist nun zwar nach Beendigung 
des vierjährigen Verfassungskonfliktes (von 1862 bis einschließlich 1865), während dessen 
Dauer ein Etatsgesetz niemals zustande gekommen ist, auch von seiten der Staatsregie- 
rung in dem Art. 1 des Gesetzes v. 14. Sept. 1866, betreffend die Erteilung der In- 
demnität in bezug auf die Führung des Staatshaushaltes vom Jahre 1862 ab 1, aus- 
drücklich anerkannt 2; allein hierdurch ist die erwähnte Anomalie noch keineswegs beseitigt. 
Die Erfahrung der letzten Jahre hat vielmehr auch nach Erlaß des Gesetzes v. 14. Sept. 
1866 bewiesen, daß der Forderung des Art. 99 der Verfassungsurkunde, ungeachtet ihrer 
nochmaligen. Verbriefung durch den Art. 1 des Indemnitätsgesetzes, keineswegs Rechnung 
getragen worden ist. Zur Beseitigung dieses mit den Bestimmungen der Verfassungs- 
urkunde unvereinbaren Zustandes sind zu verschiedenen Zeiten verschiedenartige Vorschläge 
gemacht worden, welche indes zu einem befriedigenden Ergebnis nicht führten. Diese 
Bestrebungen stehen in enger Verbindung mit der Frage über die rechtlichen Folgen der 
nicht rechtzeitig erfolgten Vereinbarung der Faktoren der Gesetzgebung über das Staats- 
haushaltsgesetz. Schon bei der Revision der oktroyierten Verfassungsurkunde v. 5. Dez. 
1848 wurde in Erwägung gezogen, welche Bestimmungen für einen solchen Fall zu 
treffen sein dürften. In der Zweiten Kammer wurde von dem Abgeordneten v. Bodel- 
schwingh (Hagen) beantragt, in einem Zusatzartikel zum Art. 98 (dem jetzigen Art. 99) 
der Verfassungsurkunde zu bestimmen, „daß in einem solchen Falle der zuletzt vollzogene 
Etat bis zur Festsetzung eines neuen — jedoch höchstens vier Monate — in Kraft 
bleiben solle, und die bis dahin in dem neuen Etatsjahre erhobenen Einnahmen 
und geleisteten Ausgaben auf die Bewilligungen des neuen Etats anzurechnen“. Dieser 
Antrag wurde auch von der Zweiten Kammer angenommen. Die Erste Kammer trat 
diesem Beschlusse zwar im Prinzip bei, jedoch nur mit der Maßgabe, daß der ab- 
gelaufene Etat nicht höchstens vier Monate, sondern vielmehr zwölf Monate in Kraft 
bleiben solle. Diese Differenz der Beschlüsse der beiden Kammern und andere (hier nicht 
weiter in Betracht kommende) Meinungsverschiedenheiten über die Fassung der Artikel 
vom Finanzrechte hatten zur Folge, daß der vorgedachte Zusatzartikel nicht in die 
Verfassungsurkunde v. 31. Jan. 1850 überging." Als nun späterhin die Erfahrung 
zeigte, daß die Feststellung des Staatshaushaltsetats sich regelmäßig über den Eintritt 
des neuen Etatsjahres hinaus verzögerte, sind verschiedene andere Vorschläge gemacht 
worden, um die Angelegenheit im Geiste der Verfassung zu ordnen. Dieselben gingen 
im wesentlichen dahin: a) den Landtag früher — etwa im Oktober oder Anfang No- 
vember — einzuberufen, oder d) das Etatsjahr anderweit — vom 1. Juli bis 30. Juni — 
festzusetzen, oder c) den Etat ein Jahr früher als bisher, nämlich schon ein Jahr vor 
Beginn des bevorstehenden Finanzjahres, vorzulegen und festzustellen, oder d) für jedes 
Jahr zwei Etats, einen für die feststehenden ordentlichen und einen für die außer- 
ordentlichen Ausgaben aufzustellen, oder e) den Etat nicht für ein Jahr, sondern jedes- 
mal für zwei Jahre aufzustellen, oder f) daß die Staatsregierung beim Zusammentreten 
der Kammern, wenn bis zum Beginne des Etatsjahres der Etat noch nicht festgestellt 
sein kann, einen Nachtragskredit oder eine vorläufige Etatsbewilligung erbitten solle, oder 
8) daß die Budgetkommission beim Schlusse einer Sitzung für die nächste Sitzung ge- 
wählt werde und behufs Prüfung des Etats schon vor der Einberufung des Landtages 
zusammentrete.“ Der Vorschlag zu e war bereits im Jahre 1852 in der Ersten Kammer 
  
  
  
  
1 G. S. 1866, S. 563. 
Der angeführte Art. 1 spricht nämlich wört- 
lich aus, „daß die dem gedachten Gesetze beigefüg- 
ten Übersichten der Staatseinnahmen und Aus- 
gaben für die Jahre 1862 bis einschl. 1865 statt 
des verfassungsmäßigen und alljährlich 
vor Beginn des Etatsjahres zu verein- 
barenden Staatshaushaltsgesetzes als 
Grundlagen für die Rechnungslegung und die 
Entlastung der Staatsregierung dienen sollen“, 
  
enthält also ein ausdrückliches Anerkenntnis der 
Staatsregierung, daß es ihre verfassungsmäßige 
Pflicht sei, die in Rede stehende Vereinbarung 
vor Beginn des Etatsjahres herbeizuführen. 
3 Vgl. das Nähere hierüber und über die 
ähnlichen, jedoch abgelehnten Anträge mehrerer 
anderen Abgeordneten in v. Rönnes Bearbeitung 
der Verf. Urk. (zu Art. 99 u. 100), S. 185 ff. 
4 Vgl. ebenda. 
5 Vgl. über diese Vorschläge und über die da-
	        
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