Staatshaushaltsetat und Kontrolle der Finanzverwaltung. (8. 118.) 127
netenhauses 1 erklärte dann aber die Staatsregierung ihren nunmehr angenommenen
Standpunkt dahin, „daß die dem Art. 99 der Verfassungsurkunde bisher gegebene Aus-
legung mit der zwölfjährigen konstitutionellen Praxis des Landes im Widerspruche stehe
und auf einer von der Staatsregierung nicht geteilten Interpretation beruhe“, und „zein
ausschließliches Bewilligungsrecht stehe dem Abgeordnetenhause auf Grund des Art. 99
nicht zu; der Ausdruck bbewilligen“ komme in der Verfassung gar nicht vor; in derselben
herrsche überall das Prinzip der Vereinbarung über jedes Gesetz, also auch über das
Budgetgesetz. Jeder der drei Faktoren habe das Recht, ein Budgetgesetz zu verwerfen,
und die Krone habe keineswegs die Verpflichtung, das von ihr vorgelegte Budgetgesetz
in der Gestalt, wie es aus den Amendements und Beschlüssen des Abgeordnetenhauses
hervorgegangen, zu genehmigen. Da das Zustandekommen des Budgetgesetzes die Zu-
stimmung der drei Faktoren voraussetze, so sei tabula rasa vorhanden, wenn ein Faktor
die Zustimmung verweigere. Daraus folge ein Notrecht der Staatsregierung, die Ver-
waltung ohne ein solches weiterzuführen. Was in der Verfassung nicht ausdrücklich
den anderen Faktoren der Gesetzgebung übertragen worden, sei ein Recht der Krone ge-
blieben. Eine authentische Interpretation des Art. 99 könne von dem Abgeordnetenhause
nicht einseitig gegeben werden“. 2 Der hiernach von der Staatsregierung eingenommene
veränderte Standpunkt veranlaßte nunmehr das Haus der Abgeordneten zu einer förm-
lichen Verwahrung der Rechte der Volksvertretung bezüglich ihres Budgetrechtes. 3 In
dem Beschlusse v. 7. Okt. 1862 erklärte das Haus (indem es zugleich an die Staats-
regierung die Aufforderung zur rechtzeitigen Vorlegung des Staatshaushaltsetats für das
bevorstehende neue Etatsjahr richtete), „daß es verfassungswidrig sei, wenn die
Staatsregierung eine Ausgabe verfügt, welche durch einen Beschluß des Hauses der Ab-
geordneten definitiv und ausdrücklich abgelehnt worden ist“. “ In den Gründen dieses
Beschlusses wird ausgesprochen, „daß alle Ausgaben des Staates verfassungsmäßig
1 Die Budgetkomm, war nämlich beauftragt
worden, über die Erklärung, mit welcher die
Staatsregierung den von ihr bereits eingebrach-
ten Staatshaushaltsetat für das nächstfolgende
Etatsjahr (1863) wieder zurückgezogen hatte,
Bericht zu erstatten.
2 Vgl. diese von dem interimistischen Minister-
präsidenten v. Bismarck in der 94. Sitz. der
Budgetkomm. des A. H. v. 30. Sept. 1862 im
Namen der Staatsregierung abgegebene Erklä-
rung in den Stenogr. Ber. des A. H. 1862,
Bd. VIII, S. 1609, und Drucks. dess. 1862,
VII. Legisl. Per., 1. Session, Bd. V, Anl. Nr. 167,
S. 11. Es ist dies dieselbe Ansicht, welche der
Ministerpräsident v. Bismarck bereits als frü-
herer Abgcordneter in der 29. Sitz. der 2. K. v.
24. Febr. 1851 (Stenogr. Ber. der 2. K. 1850
—51, BRd. I, S. 337 ff.) entwickelt hatte, indem
er zu zeigen suchte, „daß, da die Regierung vor
Emanation der Verf. Urk. allein das Recht ge-
habt habe, unbeschränkt über die Verteilung und
Verwendung der Staatsgelder zu disponieren,
sie in diesem Rechte seitdem nur insoweit be-
schränkt worden sei, als es durch den Art. 99
der Verf. Urk. geschehen sei. Die Regierung habe
danach nur die Pflicht, den Staatshaushaltsetat
vorzulegen; die Feststellung desselben hänge
von der Regierung nicht ab. Die Verf. Urk.
schweige aber darüber, was geschehen solle, wenn
das Gesetz hierüber nicht zustande komme; sie
bestimme nicht, daß in einem solchen Falle das
frühere Recht der Regierung, Ausgaben aus den
Staatsmitteln zu machen, abgeschafft sei. Der
Art. 99 schließe durchaus nicht aus, daß in diesem
Falle das Etatsgesetz des Vorjahres so lange fort-
bestehen bleibe, bis dasjenige für das nächste Jahr
vereinbart worden; vielmehr hätte, um das Gegen-
teil annehmen zu können, der Abs. 2 des Art. 99
bestimmen müssen, daß der Etat jährlich durch
ein Gesetz festgesetzt werden solle, welches nur
auf ein Jahr Gültigkeit haben solle.“ Ahnlich
folgerte in derselben Sitzung der damalige Ab-
geordn. v. Kleist-Retzow (a. a. O., S. 335—
337). Der Abgeordn. v. Bodelschwingh (Ha-
gen) erwiderte hierauf in der nächstfolgenden
Sitz. v. 25. Febr. 1851, „daß er es nicht
der Mühe wert halte, diese Interpretation durch
Widerlegung zu entkräften“ (a. a. O., S. 344),
und fügte am Schlusse seiner Rede hinzu: „Wenn
das Staatsministerium eine Interpretation des
Art. 99 adoptieren sollte, wie wir sie gestern ge-
hört haben, dann würde ich den Antrag auf
eine bloße Wahrung der Rechte nicht für zu-
reichend halten; dann würde ich der Meinung
sein, daß die Kammer andere Schritte tun müßte,
ihre Rechte zu wahren, Schritte, die entweder
bestimmt zum Ziele oder zur Auflösung führten“
(a. a. O., S. 346).
3 Vgl. die Verhandl. des A. H. in der 60. u.
61. Sitz. v. 6. u. 7. Okt. 1862 in den Stenogr.
Ber. 1862, Bd. IV, S. 2093—2153, und den
diesen Verhandl., wie dem Beschl. des Hauses v.
7. Okt. 1862 zugrunde liegenden Ber. der Bud-
getkomm. v. 1. Okt. 1862 das., Bd. VIII,
S. 1606 ff., und Drucks. des A. H. 1862, VII. Le-
gisl. Per., 1. Session, Bd. V, Nr. 167.
4 Das A. H. hat vor der Fassung dieses von
der Budgetkomm. beantragten Beschlusses das
dazu gestellte Amendement der Abgeordn. Frhrn.
v. Vincke und Gen. (Drucks. des A. H. 1862,