Kirchenhoheit und Kirchengewalt. (§. 122.) 169
Erstes Kapitel.
Die staatliche Kirchenhoheit.1
Erster Titel.
Kirchenhoheit und Kirchengewalt.
§. 122.
I. Der Inbegriff derjenigen Rechte, welche dem Staate in seinem Unterschiede
von der Kirche über die Kirchen und anderen Religionsgesellschaften zustehen, bildet die
Kirchenhoheit (Staatshoheit in Kirchensachen, jus sublime s. majestaticum circa
sacra), wogegen die Kirchengewalt oder das bischöfliche Recht (zus episcopale,
jus Sacrorum s. jus in Sacra) ? in dem Inbegriff derjenigen Rechte besteht, welche
der Kirche selbst als gesellschaftlichem Verbande über ihre Mitglieder gemäß dem Zweck
und der inneren Einrichtung dieser Verbindung zustehen. Auch das Allgemeine Land-
recht 3 unterscheidet nach dem zur Zeit seiner Redaktion in Preußen bestandenen Rechts-
zustande zwischen den Rechten des Staates über die Religionsgesellschaften (jus circa
sacra) und der Verwaltung und Vertretung der gemeinschaftlichen Rechte einer Re-
ligionspartei durch deren Vorstand (jus sacrorum)." Im Publikandum v. 16. Dez.
1808 betreffend die veränderte Verfassung der obersten Staatsbehörden 5 (§. 12) und
ebenso in der Verordnung v. 27. Okt. 1810 über die veränderte Verfassung aller
obersten Staatsbehörden (lit. C) werden gleichfalls die „Rechte der obersten Aufsicht
und Fürsorge des Staates in Beziehung auf Religionsübung (jus circa Sacra)“ und
„die Konsistorialrechte (jus sacrorum)“ „nach Maßgabe der den verschiedenen Religions-
parteien zugestandenen Verfassung“ unterschieden. Das Recht des Staates (jus circa
sacra) besteht nach den landrechtlichen Grundsätzen wesentlich in dem Recht der Ober-
aufsicht und der Genehmigung für bestimmte Fälle7; die Rechte der geistlichen Oberen
(us Sacrorum) sind nicht auf die sog. Interna der Religionspartei beschränkt, sondern
umfassen auch die äußeren Angelegenheiten in der weitesten Ausdehnung, darunter nament-
lich die Vermögensverwaltung.
II. Die Kirchenhoheit begreift in sich 1. das Recht der Zulassung (Aufnahme,
Anerkennung) von Kirchen und Religionsgesellschaften (sog. jus receptionis, jus refor-
mandi), 2. das Oberaufsichtsrecht (zus inspiciendi cavendi, jus Supremae
inspectionis saecularis in causis ecclesiasticis), 3. das Schutzrecht (jsus advocatigae
s. protectionis) über die Kirchen und Religionsgesellschaften.?
1 Thudichum, Deutsches Kirchenrecht, Bd. J,
S. 1 ff.; Kahl, Lehrsystem, S. 278 ff., 309 ff.;
Zorn, S. 216 ff.; Schoen, Bd. I, S. 160 ff.;
Bornhak, Pr. St. R. 2, Bd. III, 1914, S. 633 ff.,
bes. 646 ff.; Stutz, Kirchenrecht, a. a. O., Bd. V,
S. 396, 398 ff., 405; Kahl, Art. Kirchenhoheit
in v. Stengel-Fleischmanns W. St. V. R. 2, Bd. II,
S. 572 ff.
2 Mejer, Rechtsleben der deutschen evangel.
Landeskirchen, 1889, S. 44.
*s Bornhak, Pr. St. R.2, Bd. III, S. 641 ff.
Über die vom A. L. R. anerkannte Scheidung
dieser Begriffe Jakobson, Die Grundsätze des
preuß. Rechts über das Verhältnis von Staat und
Kirche, 1838; Jakobson, Kirchenrecht, S. 108ff.
5 G. S. 1806—10, S. 361.
6 G. S. 1811, S. 3.
A. L. R., II, 11, §s. 117, 118, 128, 136,
138, 141, 112, 145, 146, 151, 161, 176, 180,
188, 194, 197—216, 219, 237, 238, 306, 311,
431, 444, 648, 709, 948 ff. u. a. m.
s A. L. R., II, 11, §§. 167, 180, 186, 217,
220 (Anh. §. 126), 227, 238, 247, 294, 296,
298, 300, 302, 311, 639, 641, 645, 648, 649,
652, 659, 661, 662, 671, 680, 687, 695—698,
704, 706, 750, 752, 754, 759, 764, 771, 797,
824, 830 u. a. m.
°" Zur Kritik dieser Dreiteilung (dagegen:)
Zorn, S. 216; Hinschius, Staat und Kirche,
S. 269; Bornhak, Pr. St. R. 2, Bd. III,
S. 646 f.; (dafür:) Kahl, Lehrsystem, S. 313f.:
„Ein besseres und einheitlicheres ist nirgends an
die Stelle gesetzt“ (S. 314).