170 Staat und Kirche. (8. 122.)
III. Als weltliche Gewalt des Staates über die Kirche ist die Kirchenhoheit
ein wesentlicher und unzertrennlicher Teil der Staatshoheit und steht daher unstreitig
dem Inhaber und Träger der letzteren zu. Die Kirchengewalt (das Episkopalrecht)
dagegen als die höchste Gewalt in der Kirche hat in der katholischen Kirche jeder-
zeit den Bischöfen gebührt und gebührt ihnen noch jetzt; niemals befand sich dieses.
Recht in den Händen des Landesherrn als solchen.? Die Verfassung der evangelischen
Kirchen in Deutschland hat indes eine hiervon abweichende Entwicklung genommen 3, in-
folge deren in der lutherischen Kirche Ende des 16. Jahrhunderts die Fürsten an die
Spitze der Kirche gelangt waren und nicht bloß die Kirchenhoheit, sondern auch die
Kirchengewalt besaßen ", während die Konsistorien als Verwaltungsorgane bestanden, wes-
halb diese Verfassung den Namen Konsistorialverfassung erhalten hat. In der re-
formierten Kirche 5 in Deutschland haben sich dagegen die Verhältnisse verschieden
entwickelt. Wo das reformierte Bekenntnis durch die Fürsten eingeführt war, wurde
eine Verfassung, welche derjenigen der lutherischen Gebiete sehr nahe kam, begründet;
wo die Kirche unter dem Kreuze stand, entwickelte sich ein autonomes Regiment. In
den Gemeinden bildete sich das Presbyterium aus den Pastoren, Altesten und Diakonen,
1 Als rein politisches Recht gebührt sie de
Staatsoberhaupte, und zwar ohne Rücksicht auf
seine Konfession. Der Westfälische Friede hat sie
bereits als ein in der Landeshoheit enthal-
tenes Recht anerkannt. Instr. pac. Osnabr.,
Art. VIII, Ss. 1: „Singuli Electores, Principes
et Status Imperü Romani in libero juris
territorialis tam in ecclesiasticis quam in
politicis exercitio .Stabiliti firmatique
sunto“.
2 In den geistlichen Territorien trafen Kir-
chengewalt und Kirchenhoheit allerdings in der-
selben Person zufällig zusammen, wie dies auch
im Kirchenstaat der Fall war; diese zufällige Ver-
einigung hebt aber die Unterschiede zwischen Kir-
chengewalt und Kirchenhoheit keineswegs auf
(Zöpfl, Grunds. des gem. D. St. R., Bd. II,
S. 833 ff.)
3 Rieker, Die rechtl. Stellung der evangel.
Kirche Deutschlands in ihrer geschichtl. Entwick-
lung bis zur Gegenwart, 1893; Foerster, Die
Entstehung der preuß. Landeskirche, 2 Bde., 1905,
1907; Hennig, Die Kirchenpolitik der älteren
Hohenzollern in der Mark Brandenburg, 1906;
Landwehr, Die Kirchenpolitik des Großen Kur-
fürsten, 1894; Richter-Dove-Kahl, Kirchen-
rechte 5# 60 ff.“ Schoen, Kirchenrecht, Bd. I,
54 ff.
4 ½ hierüber an sich kein Streit be-
steht, finden sich doch über die Art und den
Rechtsgrund des Überganges der bischöflichen
Rechte auf die evangel. Landesfürsten mehrere,
wesentlich zwei Hauptsysteme. Nach dem ersten
System fiel bei der Reformation die bisherige
Kirchengewalt der katholischen Bischöfe, gleichsam
als herrenloses Gut, an den Landesherrn als
solchen und ward ohne weiteres mit der Landes-
hoheit als integrierender Teil vereinigt (Terri-
torialsystem). Nach dem anderen System be-
sitzt zwar der Landesherr auch die bischöfliche
Gewalt, aber nicht als Landesherr und vermöge
der Landeshoheit, sondern als Oberhaupt seiner
Landeskirche und als eigene, mit der Landeshoheit
zwar verbundene, allein dennoch für sich bestehende
Kirchengewalt (Episkopalsystem). Dies System
zerfällt in zwei Untersysteme, die im wesentlichen
(nämlich darin, daß die Episkopalgewalt beim
Landesherrn, und zwar nicht als Ausfluß der
Landeshoheit, sondern als eigene bischöfliche Ge-
walt sich befinde) übereinstimmen und nur über
die Veranlassung und den Rechtsgrund dieses
bischöflichen Rechtes des Landesherrn auseinander-
gehen. Denn a) nach dem einen System haben
die deutschen evangelischen Landesherren die bischöf-
liche Gewalt ohne Dazwischenkunft der Kirchenge-
sellschaft, gleichsam als von der katholischen Kirche
auf sie übergegangen (ex jure devoluto) erhalten
(Episkopalsystem im engeren Sinne), wo-
gegen b) nach dem anderen System die erledigte
Kirchengewalt der bisherigen katholischen geist-
lichen Oberen zunächst an die evangelisch gewor-
dene Kirchengesellschaft selbst zurückgefallen, von
dieser aber sogleich dem Landesfürsten stillschwei-
gend oder ausdrücklich überlassen und übertragen
worden ist (ex jure delegato, Kollegial=
system). — Die Redaktoren des A. L. R. haben
nicht ausschließlich das Territorialsystem zugrunde
gelegt, sondern vertreten daneben auch das Kol-
legialsystem, ohne aber das Episkopalsystem im
engeren Sinne ganz zu verwerfen. Sie erklären:
„Der protestantische Landesherr hat jure superio-
ritatis territorialis keine mehreren Rechte in
Absicht der Religion, als jeder andere Regent.
Sollte er in Absicht der protestantischen Religion
mehrere Rechte haben, so müßte er sie jure epis-
copali haben. Ob er sie wirklich habe? adhuc
sub judice lis est. Ob es gut sei, daß er sie
sich anmaße oder wirklich habe, ist wohl zu ver-
neinen, weil die protestantische Religion sonst in
jedem Regenten einen besonderen Papst haben
und von dessen oder seiner Minister oder Maitres-
sen Eigensinn oder Einfällen abhängen würde“
(Materialien zum A. L. R., Bd. LXXVI, S. 888;
v. Kamptz' Jahrb., Bd. XXXI, S. 25 ff., 113;
Jakobson, Evangel. Kirchenrecht, S. 24 ff.;
Zorn, S. 156 ff.; Friedbergs, S. 98 ff.;
Schoen, Bod. I, S. 155 ff. (Literatur: S. 1562).
s Keller, Die staatsrechtl. Anerkennung der
reformierten Kirche in Deutschland auf dem west-
fälischen Friedenskongresse, in der Festgabe für Paul
Krüger, Berlin 1911, S. 473