176“ Staat und Kirche. (§. 124.)
18 der Verfassungsurkunde an Stelle des bisherigen Art. 15 folgende Bestimmung ge-
setzt: „Die evangelische und die römisch-katholische Kirche, sowie jede andere Religionsgesell-
schaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig, bleibt aber den Staatsgesetzen
und der gesetzlich geordneten Aufsicht des Staates unterworfen. Mit der gleichen Maß-
gabe bleibt jede Religionsgesellschaft im Besitz und Genuß der für ihre Kultus-, Unter-
richts= und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds.“ 1 Durch
diese Fassung des Art. 15 sollte dessen wahrer Sinn festgestellt, sollte zum allgemeinen
und klaren Bewußtsein gebracht werden, daß auch eine selbständige Besorgung der kirch-
lichen Angelegenheiten dem staatlichen Hoheitsrecht, der Gesetzgebung und Aufsicht des
Staates unterliege. Dieser Zweck wurde aber durch den Erlaß des Gesetzes v. 5. April
1873 keineswegs vollständig erreicht; vielmehr wurde fortgesetzt sowohl in den Häusern
des Landtages als in der Presse gegen jede kirchenpolitische Gesetzesvorlage der Staats-
regierung der Einwand erhoben, daß sie gegen die verfassungsmäßig zugesicherte Selb-
ständigkeit der Kirchen verstoße. Daher erachtete die Staatsregierung es für notwendig,
diesen Zustand durch eine Anderung der Verfassungsurkunde zu beseitigen und das Ver-
hältnis zwischen Staat und Kirche nicht ferner durch allgemeine, der Mißdeutung fähige
Gesetze, sondern lediglich durch eingehende Spezialgesetze zu regeln.? Sie legte dem
Landtag den Entwurf eines Gesetzes über die Aufhebung der Art. 15, 16 und 18
der Verfassungsurkunde vor, der auch die Zustimmung beider Häuser des Landtages fand.
Durch das Gesetz v. 18. Juni 1875 3 wurden die Art. 15, 16 und 18 der Verfassungs-
urkunde aufgehoben, ohne daß eine andere Bestimmung an ihre Stelle trat." Durch
diese verfassungsmäßig erfolgte Aufhebung der Art. 15, 16 und 18 der Verfassungs-
urkunde sind diejenigen Vorschriften aus der Verfassung entfernt worden, welche bei ihrer
unbestimmten Fassung und Vieldeutigkeit fortgesetzt Anlaß boten, jedes kirchliche Verhält-
nisse regelnde Gesetz als verfassungswidrig zu bekämpfen.
1 Der in der vor. Anm. angeführte Komm.
Ber. führt aus, daß zwar Entstehungsgeschichte
und Wortlaut des Art. 15 ergäben, daß derselbe
keineswegs dahin aufzufassen sei, daß dadurch
Gesetzgebung und Oberaufsicht des Staates über-
haupt beseitigt seien in allen Fragen, welche eine
Kirche oder Religionsgesellschaft nach ihren Glau-
benslehren für ihre Angelegenheiten erachten
müsse, indes sei anzuerkennen, daß die ganz un-
bestimmte Fassung des Art. 15 ernste Gewissens-
bedenken hervorrufen könne, namentlich bei sol-
chen, welche den Eid auf die Verfassung zu lei-
sten hätten, und vom Parteistandpunkte aus ein
unerschöpfliches Feld der Agitation ergebe; gegen
jeden Gesetzentwurf über die staatlichen Rechte in
Kirchen= und Schulsachen ergebe sich daraus ein
Einspruch; bei einer Reihe von Gesetzesbestim-
mungen sei ihre fortdauernde Gültigkeit bestritten
und daher sei eine Deklaration oder neue Fassung
des Art. 15, wenn auch nicht notwendig, so doch
dringend ratsam. Hinschius, Die preuß. Kir-
chengesetze 1873, S. VI f., XXVIII ff.; An-
schütz, Verf. Urk., Bd. I, S. 286—292.
2 Motive zum Entw. des Ges. v. 18. Juni
1875: Stenogr. Ber. des A. H. 1875, Anl. Bd. II,
Nr. 228, S. 1513. Die Motive bemerken, daß
vor einer solchen Verfassungsänderung um so weni-
ger zurückgeschreckt werden dürfe, als die Gesetz-
gebung freier Bahn bedürfe, um den Staat unter
allen Umständen zu sichern gegen den seine Ho-
heitsrechte mißachtenden und angreifenden und
damit ihn selbst gefährdenden, von Rom geleite-
ten Klerus.
* G. S. 1875, S. 259. Entwurf dieses Ge-
setzes nebst Motiven in den Stenogr. Ber. des
A. H. 1875, Anl. Bd. II, Nr. 228, S. 1512 ff.;
Verhandl. darüber in den Stenogr. Ber. des A. H.
1875, Bd. II, S. 1261—1296, 1329—1352;
Bd. III, S. 1869—1882.
4 Der Entwurf des Gesetzes enthielt noch
einen zweiten Satz des einzigen Artikels, dahin
lautend: „Die Rechtsordnung der evangel. und
kathol. Kirche, sowie der andern Religionsgesell-
schaften im Staate regelt sich nach den Gesetzen
des Staates“; dieser Satz wurde wegen seiner
Vieldeutigkeit unter Zustimmung der Staats-
regierung vom A. H. gestrichen (Stenogr. Ber.
des A. H. 1875, Bd. II, S. 1283, 1296).
5 Hinschius, Die preuß. Kirchengesetze 1874
und 1875, S. XX . Die Motive zum Entw.
des Ges. v. 18. Juli 1875 (Stenogr. Ber. des
A. H. 1875, Anl. Bd. II, Nr. 228, S. 1513,
Sp. 2) bemerken: „Die Aufhebung des Art. 16
findet ihre Rechtfertigung darin, daß das Ver-
trauen, unter dem den Religionsgesellschaften der
Verkehr mit ihren Oberen ungehindert freige-
geben und die Bekanntmachung kirchlicher An-
ordnungen nur solchen Beschränkungen unter-
worfen worden ist, welchen alle übrigen Ver-
öffentlichungen unterliegen, namentlich in der
letzten Zeit schwer getäuscht worden ist. Es
braucht nur an die Enzyklika des Papstes an
den preuß. Episkopat v. 5. Febr. 1875 erinnert
zu werden, um die Notwendigkeit darzutun, daß
das Übermaß freier Bewegung, welches der ge-
dachte Artikel gewährt, in Grenzen zurückgeführt
werden muß, welche mit dem Staatswohl ver-
träglich sind.“