Die Aufsicht über die Religionsgesellschaften. (8. 124.) 177
Die durch das Gesetz v. 18. Juni 1875 aufgehobenen Art. 161 und 182 der
Verfassungsurkunde enthielten ausdrückliche Einschränkungen des Oberaufsichtsrechtes
des Staates über die Kirchen und anderen Religionsgesellschaften. Diese Einschränkungen
sind nunmehr fortgefallen und das staatliche Aufsichtsrecht kann sich seitdem frei entfalten.
Was dagegen die älteren, vor Erlaß der Verfassungsurkunde bestandenen Aufsichts-
bestimmungen angeht, so sind diese nicht etwa wieder aufgelebt, vielmehr ist zu beachten,
daß die Aufhebung der Art. 15, 16 und 18 selbstverständlich nur für die Zeit nach
Erlaß des Gesetzes v. 18. Juni 1875 wirken konnte. Sovweit also diese Artikel vor-
konstitutionelle Gesetze beseitigt hatten, sind diese durch ihre Aufhebung nicht wieder in
Kraft getreten, denn die frühere Wirkung jener Artikel ist mit ihrer durch das Gesetz
v. 18. Juni 1875 erfolgten Aufhebung nicht fortgefallen.8 Die Art. 15, 16 und 18
bleiben daher immer noch insofern von Bedeutung, als nach ihrer ursprünglichen Fassung
und Tragweite zu beurteilen ist, welche Vorschriften früherer Gesetze, insbesondere des
Allgemeinen Landrechts, von ihnen beeinflußt worden sind.
Art. 18 hatte den Grundsatz ausgesprochen, daß die Ausübung des Ernennungs-,
Vorschlags-, Wahl= oder Bestätigungsrechtes bei Besetzung kirchlicher Stellen, soweit
dies Recht dem Staate zustehe, aufgehoben sei. Damit war ausgedrückt, daß die
allgemeine Staatshoheit fortan dem Staat kein Recht mehr geben sollte, eine Ein-
wirkung auf die Besetzung geistlicher Amter auszuüben; diese Bestimmung war deshalb
in die Verfassungsurkunde aufgenommen worden, weil Art. 15 den Religionsgesellschaften
1 Art. 16 sprach aus, daß „der Verkehr der
Religionsgesellschaften mit ihren Oberen unge-
hindert" und „die Bekanntmachung kirchlicher
Anordnungen nur denjenigen Beschränkungen
unterworfen sei, welchen alle übrigen Veröffent-
lichungen unterliegen". Die erstere Bestimmung
war lediglich eine Folgerung des durch Art. 15
begründeten Grundsatzes der Selbständigkeit der
Religionsgesellschaften; sie entsprach nur dem,
was hierüber in Preußen für die kathol. Kirche
bereits vor Erlaß der Verf. Urk. festgestellt war.
Vgl. Reskr. des Min. d. geistl. Angelegenheiten
v. 31. Aug. 1818 (v. Kamptz, Annal., Bd. II,
S. 717), Restr. dess. Min. v. 1. Jan. 1841 (M.
Bl. d. i. Verw. 1841, S. 16), Reskr. dess. Min.
v. 6. Jan. 1849, Nr. 2, (M. Bl. d. i. Verw. 1849,
S. 265). Die zweite Bestimmung hatte das Recht
des landesherrlichen Plazet (Placetum regium
s. Exequatur), d. h. das Recht des Staates, die
Vorlage der von den Kirchenbehörden beabsichtig-
ten Erlasse und Anordnungen vor ihrer Verkün-
digung zum Zwecke ihrer Prüfung zu verlangen
und ihre Bekanntmachung bzw. Befolgung zu
gestatten oder zu untersagen, gänzlich aufgehoben
— früheres Recht: A. L. R., II, 11, §§. 117, 118;
Reskr. des Min. v. 1. Jan. 1841, M. Bl. d. i. Verw.
1841, S. 16; Landesverfassungsges. f. d. Königreich
Hannover v. 6. Aug. 1840 (G. S. f. Hannover
1840, Bd. I, S. 140 ff.), §§. 69, 70 nebst Ver-
fassungsänderungsges. v. 5. Sept. 1848 (das. 1848,
Bd. 1. S. 261 ff.), §. 24; Verordn. der Regie-
rungen von Kurhessen. Nassau und Frankfurt a. M.
v. 30. Juni 1830 (G. S. f. Kurhessen 1830, S.5;
Verordn. Samml. f. Nassau, Bd. IV, S. 493;
Frankfurter Gesetz= u. Stat. Samml., Bd. 1V,
S. 181 ff.), §§. 4, 5; kurhess. Verf. Urk. vom
5. Febr. 1831 (G. S. f. Kurhessen 1835, S. 1),
§. 135 — und bestimmt, daß die Bekanntmachun-
gen der Kirchengewalt lediglich nach denselben
Grundsätzen wie alle übrigen Veröffentlichungen
behandelt werden sollten. Vgl. insbes. Reichs-
v. Rönne-Zorn, Preuß. Staatsrecht.
5. Aufl. III.
preßges. v. 7. Mai 1874 und R. Str. G. B.,
§. 130a; Anschütz, Verf. Urk., Bd. I, S. 340 ff.
2 Die Bestimmung des Art. 18 war weder in
dem Verfassungsentw. der Staatsregierung noch
in dem Entw. der Verfassungskomm. der Natio-
nalversamml. enthalten, sondern findet sich erst
in dem Entw. der Zentralabteilung der Natio-
nalversamml. (Stenogr. Ber. der 2. K. 1849/50,
Bd. II, S. 1180). Die Bestimmung wurde dann
in den Art. 15 der Verf. Urk. v. 5. Dez. 1848
aufgenommen. Die Erläut. des Min. v. Laden-
berg dazu (S. 12) erklären sie für eine not-
wendige Folgerung des im Art. 12 (jetzt Art. 15)
der Verf. Urk. ausgesprochenen Grundsatzes der
Selbständigkeit der Religionsgesellschaften. Art. 18
hob das Ernennungs-, Vorschlags-, Wahl= und
Bestätigungsrecht bei Besetzung kirchlicher Stel-
len, soweit es dem Staate zusteht und nicht auf
dem Patronate oder besonderen Rechtstiteln be-
ruht, auf, fügte aber hinzu, daß diese Bestim-
mung auf die Anstellung von Geistlichen beim
Militär und an öffentlichen Anstalten keine An-
wendung finde. Das Deklarationsges. v. 5. April
1873 brachte den Zusatz: „Im übrigen regelt
das Gesetz die Befugnisse des Staates hinsicht-
lich der Vorbildung, Anstellung und Entlassung
der Geistlichen und Religionsdiener und stellt die
Grenzen der kirchlichen Disziplinargewalt fest.“
Durch das Ges. v. 18. Juni 1875 ist jedoch
auch der so abgeänderte Art. 18 aufgehoben wor-
den. Anschütz, Verf. Urk., Bd. I, S. 350 ff.
3 Hinschius, Die preuß. Kirchengesetze aus
den Jahren 1874 u. 1875, S. XX; Hinschius,
Preuß. Kirchenrecht, S. 181; Anschütz, Verf.
Urk., S. 314 ff., 329 f., 344 f.; Arndt, Verf.
Urk., S. 120 f.; Bornhak, Pr. St. R., Bd. III,
S. 652 f. Auch nach Aufhebung des Art. 16 der
Verf. Urk. hat eine Wiederherstellung des place-
tum regium in Preußen bis jetzt nicht stattgefunden.
Vgl. Hübler, Art. Plazet, in v. Stengel-Fleisch-
manns W. St. V. R.2, Bd. III, S. 80 ff.
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