Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Dritter Band. Erste Abteilung. (3_1)

184 Staat und Kirche. (8. 126.) 
Zweites Kapitel. 
Die kirchliche Selbstverwaltung unter der Aufsicht des Staates. 
S. 126. 
Vorbemerkungen. 
I. Die Verfassungsurkunde hatte das in der Kirchenhoheit des Staates enthaltene 
Oberaufsichtsrecht über die Kirche und die anderen Religionsgesellschaften keineswegs voll- 
ständig aufgehoben 1, sondern nur entsprechend dem von ihr anerkannten System der 
Religionsfreiheit in engere Schranken gezogen.? Indem Art. 15 der Verfassungsurkunde 
den Grundsatz aussprach, daß „die evangelische und die römisch-katholische Kirche 3, sowie 
jede andere Religionsgesellschaft ihre Angelegenheiten selbständig ordnet und verwaltet“", 
war staatsgrundgesetzlich festgestellt, daß fortan eine positive Teilnahme der Staatsgewalt 
bei der Ordnung und Verwaltung der eigenen Angelegenheiten der Kirche nicht mehr 
stattfinden, sondern die Kirchengewalt (jus episcopale, jus sacrorum s. jus in Sacra) ? 
ausschließlich an die Kirche selbst zurückkehren und diese die Freiheit haben solle, ihre Ver- 
fassung selbst zu gestalten. Diese Bestimmung der Verfassungsurkunde war hauptsäch- 
lich durch die Lage der evangelischen Kirche im Lande veranlaßt worden. Uber diese 
Bedeutung der gewährten Selbständigkeit bestand zur Zeit des Erlasses der Verfassungs- 
urkunde keine Meinungsverschiedenheit.“ Die römisch-katholische Kirche besaß bereits 
vorher eine umfassende, nur durch wenige staatliche Beschränkungen gehemmte Selbständig- 
keit, und die sog. geduldeten Religionsgesellschaften ordneten und verwalteten von jeher 
ihre Angelegenheiten selbst. Nur die evangelische Kirche war ganz und gar mit dem 
Staatswesen verquickt.“ Sie besaß mit Ausnahme der rheinisch-westfälischen Kirche s 
gar keine eigenen kirchlichen Verfassungsorgane, sondern lediglich Behörden, die vom 
  
1 Hinschius, Preuß. Kirchenrecht, S. 1840°; 
Anschütz, Verf. Urk., Bd. I, S. 300. 
2 Oben §. 124 zu III, S. 174 ff. 
3 Art. 15 Verf. Urk. hat der evangel. und der 
röm.-kathol. Kirche besonders gedacht, um darzu- 
tun, daß beide in der ihnen zustehenden, feier- 
lich verbrieften Stellung nicht beeinträchtigt wer- 
den sollen. (Amtliche Erläut. des Min. d. geistl. 
Ang., S. 8.) Die „evangel. Kirche“ im Sinne 
des Art. 15 ist die unierte, sog. „Landeskirche“; 
dieses Ausdruckes hat sich die Verf. Urk. lediglich 
deshalb nicht bedient, um jede Vorstellung von 
einer Staatskirche, die mit der Verfassung un- 
vereinbar wäre, fern zu halten. Nach dem Restkr. 
des Min. d. geistl. Ang. v. 27. Mai 1868 (M. Bl. 
d. i. Verw. 1868, S. 205 f.) gibt es „in Preußen 
nicht nur lutherische und reformierte Gemeinden, 
welche der Union nicht beigetreten sind, sondern. 
es hat auch die französisch-reformierte Kirche 
Preußens die Union nicht angenommen, und gleich- 
wohl bilden alle diese Gemeinden mit den der 
Union beigetretenen zusammen die evangelische 
Landeskirche. Der im Art. 15 der Verf. Urk. 
gebrauchte Ausdruck levangelische Kircher befaßt 
daher ohne Zweifel auch die lutherische und die 
reformierte Kirche.“ Uber den Begriff der Landes- 
kirche namentlich Mejer, Kirchenrecht, S. 217 ff.; 
Sohm in Btschr. für Kirchenrecht, Bd. XI, S. 167; 
Hinschius, Staat und Kirche, S. 249 ff.; Zorn, 
Kirchenrecht, S. 219 ff.; ders., Art. Evangel. Kirche, 
  
in v. Stengel-Fleischmanns W. St. V. R.2 Bd. 1, 
S. 743; Kahl, Lehrsystem, S. 332 ff.; Schoen, 
Kirchenrecht, Bd. I, S. 3, 161 ff., 165 f., 2421; 
ders., Das Landeskirchentum in Preußen, 1898 
und im Verw. Arch., Bd. VI, S. 101 ff.; Fried- 
berg in Ztschr. f. Kirchenrecht, Bd. XXX, S. 227; 
Anschütz, Verf. Urk., Bd. L, S. 201, 249 f., 265; 
Bornhak, Pr. St. R. 2, Bd. III, S. 650f. 
4 UÜber die Entstehungsgeschichte des Art. 15 
oben §. 124, S. 175, Anm. 1. 
5 Oben §. 122 zu 1, S. 169. 
6 Dies erhellt namentlich aus den Erläuter. 
des Min. d. geistl. Ang. v. Ladenberg zu Art. 12 
der oktroy. Verf. Urk. (dem späteren Art. 15), wo 
es heißt, daß künftig eine positive Teilnahme 
von seiten der Staatsregierung an den inneren 
Angelegenheiten und der Verwaltung des Ver- 
mögens der Religionsgesellschaften nicht mehr statt- 
finden, sondern nur das negative Aufsichts- 
recht über die Religionsgesellschaften fortbestehen 
solle, und hinzugefügt wird, daß die nähere Re- 
gulierung der Verhältnisse auf der Grundlage 
dieses allgemeinen Prinzips in geordnetem Wege 
demnächst erfolgen werde, und daß, was die evangel. 
Kirche betrifft, deren bisherige Verfassung nur 
so lange fortbestehen solle, bis ein anderer Rechts- 
zustand begründet sein werde. 
' Schoen, Kirchenrecht, Bd. I, S. 154 ff. 
1 8s Rheinisch-westfälische Kirchenordn. v. 5. März 
835.
	        
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