Landeskirchen der neueren Provinzen. (8. 129.) 217
entschieden werden und das Kollegium alsdann diese Entscheidung seinem Gesamtbeschluß
zugrunde legen oder, wenn Bedenken dagegen obwalteten, die Sache zur Entscheidung
des Ministers der geistlichen Angelegenheiten vortragen. Ausgehend von der Ansicht,
daß nach der Einverleibung Kurhessens in die preußische Monarchie die nach dem bis-
herigen kurhessischen Verfassungsrecht dem Landesherrn zustehende Kirchengewalt! auf
den König von Preußen übergegangen sei 2, wurde durch Allerh. Erlaß v. 9. Aug.
1869 3 angeordnet, daß für die evangelischen Kirchengemeinden im Regierungsbezirk
Kassel eine aus Geistlichen und anderen evangelischen Gemeindegliedern zu bildende außer-
ordentliche Synode nach Marburg berufen werden solle, um für jene Kirchengemeinden
die Herstellung einer presbyterial-synodalen Verfassung auf der Grundlage kirchlicher
Selbständigkeit zu beraten. Zugleich wurden durch Verordnung v. 9. Aug. 1869 die
Bestimmungen über die Zuständigkeit und Zusammensetzung dieser Synode getroffen;
diese sollte berufen sein, zu der Herstellung einer kirchlichen Verfassung mitzuwirken,
durch welche die hessische Provinzialkirche neben dem durch den Erlaß v. 13. Juni 1868
angeordneten Gesamtkonsistorium mit den erforderlichen presbyterialen und synodalen Or-
ganen ausgestattet und in den Stand gesetzt würde, sich als einheitliche, ihre Angelegenheiten
selbständig ordnende und verwaltende Provinzialkirchengemeinde zu betätigen. Uber
diesen nächsten Zweck hinausgehende Anderungen bisheriger kirchlicher Einrichtungen sollten
den später auf Grund der festgestellten Verfassung regelmäßig zusammentretenden Pro-
vinzialsynoden vorbehalten bleiben. Dieser im Herbst 1869 zusammengetretenen Synode
wurden die Entwürfe a) einer Presbyterial= und Synodalordnung, b) einer Verordnung
über die Aufbringung der Synodalkosten und c) eines Gesetzes betreffend die Ressort-
verhältnisse der kirchlichen Verwaltungsbehörden im Regierungsbezirk Kassel zur Beratung
vorgelegt. Der König hatte sich die Entscheidung über die etwa in Antrag gebrachten
Anderungen vorbehalten. Nachdem die außerordentliche Synode ihre Arbeiten vollendet
hatte 5, wurden dem Abgeordnetenhaus Ende 1870 zwei Gesetzentwürfe, nämlich a) eines
Gesetzes betreffend die Verhältnisse der evangelischen Kirchen im Regierungsbezirk Kassel,
b) eines Gesetzes betreffend die Presbyterial-- und Synodalordnung für die evangelischen
Kirchengemeinden in Hessen zur verfassungsmäßigen Beschlußnahme vorgelegt." Die zur
Vorberatung dieser Gesetzentwürfe bestellte Kommission empfahl zwar die Annahme beider
Gesetzentwürfe mit wesentlichen Abänderungen 7, allein das Abgeordnetenhaus lehnte die
Annahme der beiden ersten Paragraphen des zu a gedachten Gesetzentwurfes ab, worauf
der Minister der geistlichen Angelegenheiten beide Gesetzentwürfe zurückzog. Nachdem
dagegen das Abgeordnetenhaus bei der Beratung des Staatshaushaltsetats für das Jahr
1873 die Kosten für das Gesamtkonsistorium zu Kassel bewilligt hatte?, wurde dessen
Errichtung in Kassel durch den Allerh. Erlaß vom 24. April 1873 io angeordnet.
Der Gedanke der Einführung einer Presbyterial- und Synodalverfassung gelangte erst
viel später zur Verwirklichung. 11 Einer am 12. Nov. 1884 auf königliche Berufung in
Kassel zusammengetretenen außerordentlichen Synode wurde der Entwurf einer Presbyterial-
und Synodalordnung zur Beratung vorgelegt. Das Ergebnis der Verhandlungen war
die „Presbyterial-- und Synodalordnung für die evangelischen Kirchengemeinschaften (die
reformierte, die lutherische und die unierte) im Bezirke des Konsistoriums zu Kassel“,
1 Es ist übrigens keineswegs unbestritten, ab. 14 Ebenda S. 931 ff.
dem Landesherrn in Kurhessen die Kirchengewalt " Amtliche Ausgabe Kassel 1870.
zustehe. Die Schrift: „Die Superintendenten 3 Entwürfe dieser beiden Gesetze nebst Mo-
in der Ersten Kammer der Landstände in Kur= tiven in den Stenogr. Ber. des A. H. 1870—71,
hessen“, Kassel 1856, verneint dies. Dagegen Anl. Bd., Nr. 29, S. 43 ff.
Heppe, Die Kirchengewalt des Kurfürsten von * Komm. Ber. v. 26. Jan. 1871 in den Ste-
Hessen, 1856; Richter, Gutachten, betr. die nogr. Ber. des A. H. 1870—71, Anl. Bd., Nr. 100,
neuesten Vorgänge in der evangel. Kirche des Kur-= S. 204 ff.
fürstentums Hessen, 1857; Friedberg, Die 8 Verhandl. hierüber in den Sitz. des A. H.
evangel. und kathol. Kirche der neu einverleibten v. 6. und 7. Febr. 1871 (Stenogr. Ber. des A. H.
Länder, 1867, S. 33. 1870 —71, Bd. I, S. 465—523).
2 Dies nehmen insbes. auch an: Friedbergg, 2? In der Sitz. v. 25. Febr. 1873 (Stenogr.
u. a. O., S. 33, und Hinschius, Die evangel. Ber. des A. H. 1872—73, Bd. II, S. 1195 ff.
Landeskirche in Preußen usw., S. 51. 10 G. S. 1873, S. 184.
3 G. S. 1869, S. 930. 11 Schoen, Be. I, S. 120f.