226 Staat und Kirche. (8. 131.)
Der preußische Staat hatte auf diese Weise seit Erlaß der Verfassungsurkunde auf
die Ausübung fast aller Hoheitsrechte über die katholische Kirche, insbesondere auf jeden
Einfluß auf Bildung und Erziehung der Geistlichen, auf die Mitwirkung bei Besetzung
der geistlichen Amter, auf jede Aussicht über die kirchliche Straf= und Disziplinargewalt,
auf jede nennenswerte Kontrolle bei der kirchlichen Vermögensverwaltung verzichtet. Da-
gegen erneuerte das durch die Nachgiebigkeit der Regierung ermutigte Papsttum mit der
Enzyklika v. 8. Dez. 1864 und dem ihr beigefügten Syllabus 1 den alten Kampf gegen
den Staat und die weltliche Gewalt. Der Beschluß des Vatikanischen Konzils? v.
18. Juli 1870, die Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit und des päpfstlichen
Universalepiskopates, ließ keinen Zweifel mehr über die Zielpunkte der Politik der römi-
schen Kurie.3 Daß bei dieser Lage der Sache die seit Erlaß der Verfassungsurkunde
auf deren Auslegung gestützte Verwaltungspraxis in kirchlichen Angelegenheiten nicht bei-
behalten werden könne, war den maßgebenden Stellen endlich klar geworden. Durch den
Allerhöchsten Erlaß v. 8. Juli 18714, welcher die im Ministerium der geistlichen,
Unterrichts= und Medizinalangelegenheiten bestehende gesonderte Abteilung für die katho-
Beiträge zum preuß. und deutschen Kirchenrecht,
Heft 1, S. 51), welches mit dem zu a gedachten
Regulativ wörtlich übereinstimmt; c) für die zur
Diözese Paderborn gehörigen Reg. Bez. Magde-
burg und Merseburg ist das Regulativ v. 15. Sept.
1864 (Amtsbl. der Regierung zu Magdeburg,
Nr. 47, S. 250; der Regierung zu Merseburg,
Nr. 47, S. 255) ergangen; e) für die Provinz
Westfalen vgl. das Reskr. des Oberpräsidenten
v. 8. Mai 1852 an die Bischöfe zu Münster und
Paderborn (Beitr. zum preuß. und deutschen Kir-
chenrecht, Heft 2, S. 7 ff.); 1) für die zur Erz-
diözese Freiburg gehörigen hohenzollernschen Lande
ist das Regulativ des Regierungspräsidenten zu
Sigmaringen v. 31. Dez. 1857 (Amtsbl. der Re-
gierung zu Sigmaringen 1858, Nr. 2, S. 5)
maßgebend; 9) was diejenigen Gebiete der Rhein-
provinz betrifft, in welchen bis dahin die Ver-
hältnisse des Staates zur Kirche durch die fran-
zösische Gesetzgebung, insbes. die organischen Ar-
tikel v. 18. Germinal X, bestimmt wurden, so
enthalten die Verhandlungen der Verf. Komm.
sowie der Zentralabteilung der Nat. Vers. und
die oktroy. Verf. Urk. v. 5. Dez. 1848, die
Verhandlungen der beiden Revisionskammern
und die revid. Verf. Urk. v. 31. Jan. 1850 keine
Andeutung darüber, daß das neue Staatskirchen-
recht nicht auch auf diesen Teil der Monarchie
sich erstrecken sollte (Richter in der Ztschr. für
Kirchenrecht, Bd. I, S. 109 f.). Hinsichtlich dieses
Landesteiles sind indes ähnliche Ministerialerlasse
wie für die übrigen Provinzen nicht für erfor-
derlich erachtet worden, weil der schärfer ausge-
prägte Charakter der rheinischen Gesetzgebung und
Verwaltung das dem Staat und der Kirche ver-
fassungsmäßig angewiesene Gebiet leichter über-
sehen ließ und kaum einen Zweifel über den Be-
reich der mit dem abgeschafften staatlichen Kirchen-
regiment beseitigten Einrichtungen und Gesetze
gestattete. Die rheinischen Bischöfe haben daher
ihrerseits nicht unterlassen, durch amtliche An-
ordnungen das Erforderliche zu normieren (für
die Erzdiözese Köln durch die Verordn. v. 15. Jan.
1849, für die Diözese Trier durch die Verordn.
v. 4. Okt. 1850), und die Staatsregierung hat
einen Widerspruch gegen deren Inhalt nicht
erhoben. Der Min. d. geistl. Ang. hat viel-
mehr in den Reskr. v. 19. Jan. 1850 und
16. Sept. 1862 (Archiv für kathol. Kirchenrecht,
Bd. IX, S. 153; Bd. X, S. 295) ausdrücklich
anerkannt, daß die mit der verfassungsmäßigen
Selbständigkeit der kathol. Kirche unverträglichen.
Bestimmungen der rheinischen Gesetze durch den
Art. 109 der Verf. Urk. ohne weiteres aufgehoben
worden sind. Mit diesem Grundsatz ist indes die-
jenige Auffassung, welche dem Erk. des 5. Sen.
des Ob. Trib. v. 19. Mai 1863 (a. a. O., Bd. X,
S. 268) zugrunde liegt und welche infolgedessen
die Regierung zu Köln in dem Runderlaß vom
21. Juli 1863 (a. a. O., Bd. X, S. 276) auf-
gestellt hat, nicht vereinbar. Hierüber die Schrift:
Das verfassungsmäßige Recht der Kirche in Preu-
ßen und das Urteil des Ob. Trib. v. 19. Mai
1863 (auch im Archiv für kathol. Kirchenrecht,
Bd. XI); Friedberg in der Deutsch. Gerichts-
zeitung 1865, Nr. 28, S. 109 ff.
1 Syllabus complectens praecipuos nostrae
detatis errores, qui notantur in allocutionibus
Consistorialibus, in encyclicis allisque aposto-
licis litteris sanctissimi domini nostri Pü
Papae IX. H. Denzinger, Enchiridion sym-
bolorum et definitionum, 1865; Ztschr. f. Kir-
chenrecht, Bd. V, S. 322 ff.
:2 Friedberg, Sammlung der Aktenstücke zum
ersten Vatikanischen Konzil, 1872.
* Zum folgenden: Hinschius, Die preuß.
Kirchengesetze des Jahres 1873, S. Vf.; ders.,
Die Stellung der deutschen Staatsregierungen
gegenüber den Beschlüssen des Vatikanischen Kon-
zils, 1871; Hahn, Geschichte des „Kultur-
kampfes“, 1881; Siegfried, Aktenstücke, betr.
den preuß. Kulturkampf, 1882; Majunke, Ge-
schichte des Kulturkampfes, 1886; Kißling, Ge-
schichte des Kulturkampfes im Deutschen Reiche,
im Auftrage des Zentralkomitees für die General-
versammlungen der Katholiken Deutschlands, Bd. L,
1911 (dazu die Besprechung von Rothenbücher
in der Ztschr. für Rechtsgesch., Kanon. Abt., Bd. II,
S. 453 ff.), Bd. II, 1914. Uber die Stellung der
preuß. Staatsregierung zu der Frage über das
Dogma von der Infallibilität in ihren praktischen
Konsequenzen vogl. Allerh. Bescheid an den Erz-
bischof von Köln v. 18. Okt. 1871 und Erlaß
des Min. d. geistl. Ang. v. 25. Nov. 1871
(M. Bl. d. i. Verw. 1871, S. 50, 51).
4 G. S. 1871, S. 293.