Kathol. Kirche seit Erlaß der Verfassungsurkunde. (8. 131.) 227
lischen Kirchenangelegenheiten aufhob, geschah der erste Schritt 1 dazu; durch das Gesetz
v. 11. März 1872 betreffend die Beaufsichtigung des Unterrichts= und Erziehungs-
wesens nahm der Staat die ihm nach preußischer Gesetzgebung stets zugestandene Auf-
sicht über alle öffentlichen und Privatunterrichts- und Erziehungsanstalten wieder als
sein Recht in Anspruch. Die Vorbereitung einer neuen organischen Gesetzgebung aber,
die erforderlich erschien, um das Verhältnis des Staates zur katholischen Kirche so zu
regeln, daß alle ihre staatsgefährlichen übergriffe vom Staat mit Erfolg zurückgewiesen
werden konnten, wurde nach Entlassung des Kultusministers v. Mühler dessen Nachfolger
Dr. Falk überwiesen. Dieser legte dem Landtag auf Grund Allerhöchster Ermächtigung
vier Gesetzentwürfe vor, welche zwar keine vollständige Regelung des Verhältnisses zwischen
Staat und Kirche enthielten, aber doch den dringendsten Bedürfnissen der Gegenwart
Genüge leisten sollten. Es waren dies a) der Entwurf eines Gesetzes über die
Grenzen des Rechts zum Gebrauch kirchlicher Straf= und Zuchtmittel 4, b) der Entwurf
eines Gesetzes über die Vorbildung und Anstellung der Geistlichen, c) der Entwurf eines
Gesetzes über die kirchliche Disziplinargewalt und die Errichtung des königlichen Gerichts-
hofes für kirchliche Angelegenheiten, d) der Entwurf eines Gesetzes betreffend den Aus-
tritt aus der Kirche. Diese Gesetzentwürfe erhielten die Genehmigung beider Häuser
des Landtages und wurden nach erfolgter königlicher Sanktion am 11., 12., 13. und
14. Mai 1873 publiziert. 5
Von diesen vier Gesetzen 5 bezieht sich das zu a auf alle Religionsgesellschaften,
mögen sie die Stellung der privilegierten christlichen Kirchen einnehmen oder nur Korpo-
rationsrechte besitzen oder lediglich bloße religiöse Vereinigungen darstellen. Nur die
privilegierten Kirchen, also die 7 evangelischen Landeskirchen und die römisch-katholische
Kirche (einschl. der altkatholischen) betreffen die Gesetze zu b und c, während das Gesetz
d sich auf die privilegierten Kirchen und die mit Korporationsrechten ausgestatteten
1 Auch die Reichsgesetzgebung sah sich zu ge-
wissen Maßnahmen veranlaßt. Vgl. Reichsges.,
betr. Ergänzung des R. Str. G. B. v. 10. Dez.
1871 (Einfügung des §. 130 a, sog. Kanzelpara-
graphen); Jesuitenges. v. 4. Juli 1872 (unten
S. 236, Note 2); Expatriierungsges. v. 4. Mai
1874 (unten S. 233, Note 2).
2 G. S. 1872, S. 183.
Vgl. auch den Allerh. Erlaß v. 15. März
1873, betr. Aufhebung des Amtes eines kathol.
Feldpropstes; v. Kleinsorgen, Kirchenpolitische
Gesetze 2, 1887, S. 26.
" Entwurf nebst Motiven in den Stenogr. Ber.
des N H. 1872—73, Anl. Bd. I, Nr. 23, S. 125ff.
5 Über die zu b, T und d gedachten Gesetz-
entwürfe nebst Motiven vgl. Stenogr. Ber. des
A. H. 1872—73, Anl. Bd. 1, Nr. 94 und 95,
S. 438—461. Dr. Falk entwickelte in der Sitz.
des A. H. v. 9. Jan. 1873 in ausführlicher Dar-
legung den Standpunkt der Staatsregierung be-
züglich der Notwendigkeit des Erlasses dieser Ge-
setze (Stenogr. Ber. des A. H. 1872—73, Bd. I,
S. 447—450). Die erste Beratung der Gesetz-
entwürfe fand in den Sitz. des A. H. v. 16. bis
21. Jan. 1873 statt, und zwar die des Gesetz-
entwurfes zu b in den Sitz. v. 16. und 17. Jan.
1873 (Sitz. 27 und 28, Stenogr. Ber. S. 587
—645), die des Gesetzentwurfes zu c in der Sitz.
v. 20. Jan. 1873 (Sitz. 29, a. a. O., S. 647
—6606)9, die des Gesetzentwurfes zu a am 20. und
21. Jan. 1873 (Sitz. 29 und 30, a. a. O., S. 666
—696), die des Gesetzentwurfes zu d am 21. Jan.
1873 (Sitz. 30, a. a. O., S. 696—698). Auf
Grund des von der Komm. zur Vorberatung der
„Gesetzentwürfe erstatteten Berichts v. 3. Febr. 1873
(Stenogr. Ber. des A. H. 1872—73, Anl. Bd. II,
Nr. 144, S. 643 ff.) erfolgte die zweite Beratung
des Gesetzentwurfes zu b in den Sitz. v. 7., 8.,
10., 11., 13. und 14. März 1873 (Sitz. 59—64,
Stenogr. Ber. 1488—1645), die zweite Beratung
des Gesetzentwurfes zu c auf Grund des Komm.
Ber. v. 12. Febr. 1873 (Stenogr. Ber. des A. H.
1872—73, Anl. Bd. II, Nr. 167, S. 778 ff.) in
den Sitz. v. 14. und 15. März 1873 (Sitz. 64
und 65, Stenogr. Ber., S. 1645—1696), die des
Gesetzentwurfes zu a auf Grund des Komm. Ber.
v. 18. Febr. 1873 (Stenogr. Ber. des A. H. 1872
—73, Anl. Bd. II, Nr. 208, S. 986 ff.) in der
Sitz. v. 18. März 1873 (Sitz. 67, Stenogr. Ber.,
S. 1713—1739), die des Gesetzentwurfes zu d auf
Grund des Komm. Ber. v. 26. Febr. 1873 (Ste-
nogr. Ber. des A. H. 1872—73, Anl. Bd. II,
Nr. 247) in der Sitz. v. 19. März 1873 (Sitz. 68,
Stenogr. Ber., S. 1741—1758). Bei der in der
Sitz. v. 20. März 1873 (Sitz. 69, Stenogr. Ber.,
S. 1767— 1802) erfolgten dritten Beratung wur-
den die drei erwähnten Gesetzentwürfe endgültig
angenommen. Das H. H. beriet über die Ent-
würfe in den Sitz. v. 24., 25., 26., 28., 29. und
30. April 1873 (Sitz. 25—30, Stenogr- Ber. des
H. H. 1872—73, S. 1425—577 und nahm sie
in der Sitz. v. 1. Mai 1873 (Sitz. 31, Stenogr.
Ber., S. 579—586) mit geringen Abänderungeß
der Gesetzentwürfe zu b und c an, welchen Ab-
änderungen das A. H. in der Sitz. v. 9. Mai
1873 (Sitz. 63, Stenogr. Ber., S. 1852—1867)
seine Zustimmung gab. Die königl. Sanktion
wurde sofort erteilt und die Publikation der Ge-
setze erfolgte unterm 11., 12., 13. und 14. Mai
1873 (G. S. 1873, S. 191 ff.).
* Hinschius, Die preuß. Kirchengesetze des
Jahres 1873, S. XIVf.
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