232 Staat und Kirche. (§. 131.)
und 1887 (Art. 4)1 regelt die Schranken der von den Kirchen und Religionsgesell-
schaften über ihre Mitglieder in Anspruch genommenen Straf= und Zuchtgewalt in der
durch das Verhältnis zwischen dem Staat und den religiösen Gesellschaften gebotenen
Weise. Die Notwendigkeit, einem Mißbrauch der kirchlichen Straf= und Zuchtmittel ent-
gegenzutreten, hatte bereits im Mittelalter zu mannigfachen Sicherheitsmaßregeln seitens
der Staatsgewalt geführt und war auch im alten Deutschen Reiche grundsätzlich aner-
kannt. Auch nach seiner Auflösung zeigte sich in den deutschen Staaten mehrfach das
Bedürfnis, gesetzliche Normen über das Rechtsmittel des hiezurse wegen Mißbrauchs
der Amtsgewalt der katholischen wie der protestantischen Geistlichkeit (recursus ab abusu)
aufzustellen. Die innerhalb der katholischen Kirche seit der Gründung des neuen Reiches
hervorgetretene Bewegung, die Haltung, welche der katholische Klerus dem Staat gegen-
über eingenommen hat, sowie die Bildung einer staatsfeindlichen katholischen Partei im
Lande begründeten die Notwendigkeit, den Üübergriffen der Kirchengewalt mit der Ent-
schiedenheit entgegenzutreten, welche zur Aufrechterhaltung der staatlichen Autorität und
zur Wahrung des konfessionellen Friedens unerläßlich war. Leitender Grundsatz war
hierbei, wie überhaupt bei Regelung der Grenzen zwischen Staat und Kirche, daß ein
Staat, welcher den verschiedenen Kirchen= und Religionsgesellschaften Raum zur freien
und selbständigen Entwicklung gewährt, nur insoweit gegen einen Mißbrauch der geistlichen
Amtsgewalt einzuschreiten berufen ist, als die staatlichen Einrichtungen und Gesetze, die
staatlichen Rechte seiner Angehörigen oder die Erfüllung der den letzteren gegen den
Staat obliegenden Pflichten in Frage gestellt und gefährdet werden. Das Gesetz v.
13. Mai 1873 geht demgemäß davon aus, daß kirchliche Straf= und Zuchtmittel nach
drei Richtungen nicht geduldet werden dürfen und daher, wenn sie doch vorkommen, dem
Staate eine wirksame Repression zur Pflicht machen, nämlich a) solche, welche sich in
ihren Wirkungen nicht auf das kirchliche Gebiet beschränken, b) solche, welche sich zwar
auf dieses Gebiet beschränken, aber der Ausübung staatlicher Rechte nach der bestehenden
Gesetzgebung des Staates entgegenwirken, und c) solche, welche durch ihre Form an und
für sich als ungehörig erscheinen. Demgemäß bezeichnet §. 1 des Gesetzes die Grenzen,
innerhalb deren dem Recht zur Anwendung kirchlicher Straf= und Zuchtmittel freie Be-
wegung bleibt. §. 1 gestattet allen Kirchen und Religionsgesellschaften nur die Anwen-
dung solcher Straf= und Zuchtmittel, welche dem rein religiösen Gebiete angehören oder
die Entziehung eines innerhalb der Kirche oder Religionsgesellschaft wirkenden Rechts
oder die Ausschließung aus der Kirche oder Religionsgesellschaft betreffen. Unstatthaft
sind dagegen alle Straf= und Zuchtmittel, welche ihrer beabsichtigten Wirkung nach über
das religiös-kirchliche Gebiet hinausgehen, namentlich solche, welche gegen Leib, Ver-
mögen, Freiheit oder bürgerliche Ehre gerichtet sind. Derartige Straf= und Zuchtmittel
dürfen weder angedroht noch verhängt, noch verkündet werden.“
4. Das Gesetz vom 14. Mai 1873 betreffend den Austritt aus der Kirche 5, welches
im Gegensatz zu den vorerwähnten Gesetzen keine Anderungen erfahren hat, regelt den
Austritt aus den privilegierten Kirchen und den mit Korporationsrechten ausgestatteten
Religionsgesellschaften nach Form und Wirkung. Vor allem galt es, eine zwischen dem
obersten Gerichtshofe und der Verwaltung hervorgetretene Meinungsverschiedenheit über
die Frage der Weiterhaftung der aus einer privilegierten Kirche ausgetretenen Dissidenten
Bd. II, S. 290 ff.: Thudichum, Kirchenrecht,
Bd. II, S. 188 ff.; Bornhak, Pr. St. R.7,
Bd. III, S. 654.
88. 2—6 sind durch die Novelle v. 29. April 1887,
Art. 4 aufgehoben.
5 G. S. 1873, S. 207; dazu Kommentar von
1 Hinschius, Kirchengesetze 1886/87, Tl. 1,
S. 101 f.; Tl. 2, S. 16, 35; Hübler, Art. Kir-
chenzucht in v. Stengel-Fleischmanns W. St. V. R.2,
Bd. II, S. 521.
2 Motive des Entw. des Ges. v. 13. Mai 1873
(Bienogr- Ber. des A. H. 1872—73, Anl. Bd. I,
Nr. 23, S. 126 ff.).
8 Motire, a. a. O., S. 127, Sp. 2.
4 Von dem ganzen Gesetz steht heute nur noch
der im Text näher dargelegte §. 1 in Kraft. Die
Hinschius in dessen Preuß. Kirchengesetzen 1873,
S. 167 ff.; neuestens von Caro, Gesetz, betr. den
Austritt aus der Kirche (Guttentagsche Samml.,
Nr. 46, 1911); A. B. Schmidt, Der Austritt
aus der Kirche, 1893; ders., Neue Beiträge zum
Austritt aus der Kirche, in der Festschrift für
Friedberg, 1908; Friedberg, Kirchenrecht", 1909,
S. 291 ff.; Schoen, Bd. II, S. 240 ff.; Köhler,
in der Deutschen Ztschr. f. Kirchenrecht, Bd. XXV,
(3. Folge, Bd. III), S. 1 ff.