Kathol. Kirche seit Erlaß der Verfassungsurkunde. (§. 131.) 235
gegenüber den verfassungsmäßig beschlossenen, vom Könige vollzogenen und gehörig publi-
zierten Gesetzen vom 11.—14. Mai 1873 und vom 20. und 21. Mai 1874 war ein
solches, daß die Majestätsrechte, unter deren Vorbehalt allein die katholische Kirche in
Preußen alle Staatsleistungen empfangen hat und zu genießen berechtigt ist, auf das
schwerste geschädigt und verletzt erschienen. Der Papst hatte am 5. Febr. 1875 an
die preußischen Erzbischöfe und Bischöfe eine Enzyklika erlassen 1, in welcher er jene
Gesetze vor der katholischen Welt für ungültig (Iirritas) erklärte und den Ungehorsam
gegen dieselben sanktionierte, und die Erzbischöfe und Bischöfe in Preußen hatten diese an
sie gerichtete Enzyklika ohne Widerspruch hingenommen. Die Staatsregierung konnte diese
Erklärung des Oberhauptes der katholischen Kirche nicht stillschweigend hinnehmen. Der-
erste Schritt war die Einbringung eines Gesetzentwurfs betreffend die Einstellung der
Leistungen aus Staatsmitteln für die römisch-katholischen Bistümer und Geistlichen.?
Die preußischen Bischöfe beschlossen auf einer Konferenz in Fulda am 2. April 1875
eine Protestadresse wegen dieses Entwurfes an den König. Diese Adresse fügte der Krone,
mit deren Ermächtigung der Gesetzentwurf eingebracht war, in versteckter Weise eine
neue Beleidigung zu und erreichte gerade den entgegengesetzten Zweck, indem sie dem
Staatsministerium zur Beantwortung überwiesen wurde und von diesem die gebührende
Abfertigung erhielt.3 Der Gesetzentwurf fand die Zustimmung beider Häuser des Land-
tages " und wurde als Gesetz v. 22. April 1875 5 publiziert. Dieses sog. Brotkorb-
oder Sperrgesetz war in allen seinen Bestimmungen nur für die damaligen außerordent-
lichen Verhältnisse berechnet. Es ist daher, nachdem diese sich geändert, gegenstandslos
geworden 5 und hat, obwohl nicht ausdrücklich aufgehoben, seine Anwendbarkeit verloren.7
Die seit Erlaß der Verfassungsurkunde eingetretene umfangreiche Ausdehnung des-
katholischen Ordens= und Kongregationswesens s und die Existenz der hauptsächlich seit
1 Archiv f. kathol. Kirchenrecht, Bd. XXXIII.tigte, der vom Bischof oder Bistumsverweser über-
S. 373; Acta s. sedis, Bd. VIII, S. 301; nommenen Verpflichtung ungeachtet, den Gesetzen-
Stenogr. Ber. des A. H. 1875, Bd. II, S. 881 ff. des Staates den Gehorsam verweigern sollten,
2 Gesetzentw. (nebst Motiven) in den Stenogr. war die Staatsregierung ermächtigt, die für diese
Ber. des A. H. 1875, Anl. Bd. II, Nr. 100, Empfangsberechtigten bestimmten Leistungen wie-
S. 1066 ff. der einzustellen (§. 5). Andererseits waren, wenn-
3 Vgl. die Protestadresse v. 2. April 1875 und gleich die Einstellung für einen Sprengel statt-
den Bescheid des Staatsministeriums v. 9. April gefunden hatte, die Staatsmittel solchen Berech-
1875 im Archiv f. kathol. Kirchenrecht, Bd.XXXIII,tigten, welche sich schriftlich zur Erfüllung der
S. 468, und bei Hinschius, a. a. O., S. XVIIFf. Staatsgesetze verpflichteten, wieder zu gewähren;
4 Er wurde in beiden Häusern ohne Verwei= auch konnten solche Leistungen denjenigen gegen-
sung an eine Kommission erledigt. Vgl. die Ver= über, welche durch Handlungen die Absicht an
handl. im A. H. in den Sitz. v. 16., 18. und den Tag legten, die Gesetze des Staates zu be-
19. März und 6. Mrril 1875 (Stenogr. Ber. des folgen, bis zur Verweigerung des Gehorsams.
A. H. 1875, Bd. II, S. 823 ff., 879 ff., 907 ff., wieder ausgenommen werden (s§. 6). Solange
975 ff.) und im H. H. in den Sitz. v. 14., 15. die Einstellung der Leistungen aus Staatsmitteln
und 17. Aprit 1875 (Stenogr. Ber. des H. H. dauerte, war auch die exekutivische Beitreibung
1875, Bd. I, S. 219 ff., 245 ff., S. 265). im Verwaltungswege in betreff der Abgaben und.
* G. S. 187 5, S. 194 ff.; dazu Kommentar Leistungen an das betreffende Bistum, die zu ihm
von Hinschius in dessen Preuß. Kirchengesetzen gehörigen Institute und die Geistlichen für den
der Jahre 1874 und 1875, S. 69 ff. Dieses gesamten Umfang des Sprengels zulässig und
Gesetz verfügte, daß in sämtlichen Diözesen sowie den Staats= und Gemeindesteuererhebern während
Diözesananteilen des preuß. Staates vom Tage der Dauer der Einstellung verboten, die gedachten
der Verkündigung des Gesetzes an sämtliche für Abgaben zu erheben und an die Empfangsberech-
die Bistümer, die zu ihnen gehörigen Institute tigten abzuführen (8. 10).
und die Geistlichen bestimmten Leistungen aus 6 v. Kleinsorgen, Kirchenpolitische Gesetze:,
Staatsmitteln eingestellt wurden, ausgenommen 1887, S. 62; dort auch der Text des Gesetzes.
nur die Leistungen, welche für Amtsgeistliche be- ök über die Verwendung der während der Ein-
stimmt waren (§. ). Die eingestellten Leistun= stellung der Leistungen aufgesammelten Beträge.
gen sollten jedoch für den Umfang des Sprengels vgl. §. 9 des Gesetzes. Der nicht verwendete
wieder aufgenommen werden, sobald der im Amte Betrag von 16009 333,02 AM ist durch Ges. v.
befindliche Bischof (Erzbischof, Furstbischof) oder 24. Juni 1891 (G. S. 1891, S. 227) auf die
Bistumsverweser der Staatsregierung gegenüber Bistümer nach den Bestimmungen des Gesetzes
sich schriftlich verpflichtete, die Gesete des Staates verteilt worden.
zu befolgen (s. 2). Wenn nach Wiederaufnahme Hinschius, Die preuß. Kirchengesetze der
der Leistungen aus Staatsmitteln für den Um= Jahre 1874 und 1875, S. XIX, XXI, 81 ff.;
fang eines Sprengels einzelne Empfangsberech= Motive zum Gesetzentw., Drucks. des A. H. 1875,