Notverordnungen. (S. 112.) 23
licher Gesetze, sondern nur provisorische Gesetzeskraft haben, und daß sie daher den
Kammern bei ihrem nächsten Zusammentritt sofort zur Genehmigung vorgelegt werden
müssen.
Nach allen diesen Richtungen handelt es sich um nähere Erörterungen der Grund—
sätze des Art. 63 und zugleich um die Frage der rechtlichen Wirkung der etwa von den
Kammern versagten Genehmigung einer Notverordnung.
1. Was zunächst die Fälle der verfassungsmäßigen Zulässigkeit des Erlasses einer
Notverordnung betrifft, so muß eine dringende Notwendigkeit dazu vorhanden sein.
Die Umstände müssen also so dringend sein, daß die nächste Zusammenkunft der Landes—
vertretung nicht abgewartet werden kann. Bei Gegenständen von großer Wichtigkeit ist
sogar anzunehmen, daß die Dringlichkeit nur alsdann nachgewiesen sei, wenn die Umstände
von der Art sind, daß eine außerordentliche Einberufung der Kammern, vorausgesetzt,
daß solche im richtigen Verhältnisse zu dem Gegenstande der Verordnung steht, nicht
ausführbar gewesen sei. Außerdem muß der dringende Fall unter eine der beiden allei
zulässigen Kategorien fallen, daß nämlich entweder nicht möglich sein würde, ohne die
Maßnahme die öffentliche Sicherheit aufrechtzuerhalten, oder daß ein so ungewöhnlicher
Notstand 1 vorhanden sei, daß dessen Beseitigung nicht anders als durch Erlaß einer
Notverordnung herbeigeführt werden kann. Über das wirkliche Vorhandensein dieser Vor-
aussetzungen muß das für dieselbe verantwortliche gesamte Staatsministerium den zu
seiner Entlastung erforderlichen Beweis führen. Da die Verfassungsurkunde nur in den
vorgedachten beiden Fällen eine Notverordnung gestattet und da diese Ausnahme von der
Regel streng auszulegen ist, so leuchtet ein, daß nur wegen eines allgemeinen Vorteils
und aus dem Grunde der bloßen Nützlichkeit auf Grund des Art. 63 keine Verordnung
mit Gesetzeskraft erlassen werden darf.? Geschähe dies dennoch, so würde mithin eine
Berufung auf den Art. 63 nicht statthaft sein, sondern die Rechtfertigung anderweitig
begründet werden müssen. — Darüber, ob der von dem Staatsministerium zu führende
Nachweis für erbracht zu erachten ist, steht die Entscheidung demnächst den Kammern zu,
und nur die Genehmigung der Notverordnung gewährt dem Staatsministerium die In-
demnität. Die Frage, ob die Notverordnung gerechtfertigt sei, ist in der Regel — je
1 Die Staatsregierung hat angenommen, daß
ein „Notstand“ im Sinne des Art. 63 der Verf.
Urk. auch dadurch begründet sein könne, daß in-
folge von übernommenen Verbindlichkeiten „inter-
nationaler Natur“ (z. B. aus Staatsverträgen)
eine Verordnung mit provisorischer Gesetzeskraft
erforderlich wird (vgl. Stenogr. Ber. des A. H.
1866, Sitz. v. S. Febr. 1866, S.94— 95). Dieser
Ansicht ist nicht widersprochen worden.
2 In diesem Sinne änßert sich auch v. Schulze
(St. R., Bd. II, S. 34) dahin: „Eine bloß ge-
wöhnliche Nützlichkeitsrücksicht kann den
außergewöhnlichen Schritt des Erlasses einer Ver-
ordnung auf Grund des Art. 63 der Verf. Urk.
nicht rechtfertigen. Es muß in der Tad die öffent-
liche Sicherheit nicht anders aufrechterhalten oder
ein ungewöhnlicher Notstand nicht anders be-
seitigt werden können, als durch unverzüglichen
Erlaß einer solchen Verordnung mit Gesetzeskraft.
Es muß ein schwerer Nachteil, welcher das Staats-
oder Volksleben bedroht, eben nur auf diese
Weise abgewendet werden können.“ Vgl. auch
v. Gerber, Grundzüge, 3. Aufl., S. 152, N. 1.
Diesen Grundsatz hat das A. H. auch in dem
Falle anerkannt und aufrechterhalten, wo auf
Grund des Art. 63 eine Verordn. v. 10. Junie
1871 (G. S. 1871, S. 229) oktroyiert worden
war, welche die Preuß. Bank ermächtigte, in
Elsaß-Lothringen Kontore, Kommanditen und
Agenturen zu errichten und daselbst nach Maß-
gabe der Bestimmungen der Bankordn. v. 5. Okt.
1846 Bankgeschäfte zu betreiben. Das A. H.
versagte in der Sitz. v. 26. Jan. 1872 (Stenogr.
Ber. 1871—/72, Bd. I, S. 498—509) der Not-
verordn. seine Genehmigung, indem es annahm,
daß hier ein Fall der Anwendbarkeit des Art. 63
nicht vorgelegen habe, und infolge dieses Beschlusses
wurde die Verordn. v. 10. Juli 1871 durch die
Verordn. v. 26. Febr. 1872 (G. S. 1872, S. 182)
wieder aufgehoben. Bornhak:, I, S. 539 er-
hebt die Frage, „ob nachträglich bei der Vorlage
der Verordnung an den Landtag diesem ein Urteil
darüber zusteht, ob ein Notstand vorlag oder
nicht“, und bemerkt: „diese Frage ist an sich zu
bejahen“. „Die Prüfung und ihr Ergebnis haben
aber eine politische Bedentung.“ Beid der betreffen-
den Diskussion im A. H. ist auch (insbesondere von
v. Rönne) hervorgehoben worden, daß der Art. 63
voraussetze, daß der Notzustand innerhalb des
Preußischen Staates entstanden sei, und daß
niemals die Rücksicht auf Verhältnisse, die sich
in anderen Ländern gestaltet haben, die Anwen-
dung des Art. 63 rechtfertigen könne. (Stenogr.
Ber. a. a. O., S. 499.) Diese Ansicht kann jedoch
nicht als zutreffend anerkannt werden; eine
dringende Notwendigkeit zum Eingreifen für die
preuß. Staatsgewalt kann sehr wohl auch in Ver-
hältnissen liegen, die außerhalb des preuß. Staats-
gebietes eingetreten sind. A. A. auch Schwartz,
Verf. Urk., S. 207.