24 Die Gesetzgebung. (8. 112.)
nach der weiteren oder engeren Auffassung, welche mit den Begriffen: „Aufrechthaltung
der öffentlichen Sicherheit“ und „Beseitigung eines ungewöhnlichen Notstandes“, sowie
mit dem Worte „dringend“ verbunden wird — weniger eine objektive, als subjektiver
Ansicht unterliegende. Die Entscheidung der Kammern darüber, ob die Dringlichkeit
und das Vorhandensein eines der gedachten beiden Fälle anzuerkennen ist oder nicht, schließt
deshalb in der Regel ein Vertrauens= oder Mißtrauensvotum in bezug auf das Staats-
ministerium in sich, und die Genehmigung der Oktroyierung enthält recht eigentlich das-
jenige, was im Englischen Staatsrechte als sog. „Bill of indemnity)“ bezeichnet wird.
2. Dem Gegenstande nach darf die Notverordnung nicht der Verfassung zuwider-
laufen. Da der Art. 63 der Verfassungsurkunde nur verbietet, daß die Notverordnung
nicht „der Verfassung“ zuwiderlaufen dürfe, so folgt, daß in betreff der Gegenstände
im übrigen der Erlaß nicht beschränkt ist. Die Notverordnung darf daher an sich das
gesamte Gebiet der eigentlichen Gesetzgebung betreten; nur die durch die Verfassung selbst
gesteckte Grenze darf niemals überschritten werden. Innerhalb dieser Schranke aber
kann und darf die Notverordnung nicht allein solche Anordnungen treffen, welche be-
stehende Gesetze ganz oder teilweise aufheben, beschränken, suspendieren, erweitern oder
authentisch erklären, sondern auch solche, deren materieller Inhalt keine Analogie in der
bestehenden Gesetzgebung findet. Sie ist daher an sich auch nicht von dem Gebiete
der sog. organischen Gesetze und der organischen Staatseinrichtungen ausgeschlossen; nur
daß hier wohl der Fall der „Dringlichkeit“ nicht leicht zu erweisen sein wird. Allein
desto strenger muß gefordert werden, daß jeder Erlaß einer Notverordnung die Schranken
der Verfassung innehält. Diese Schranken machen sich in folgenden Beziehungen geltend:
Eine Notverordnung darf niemals eine Anordnung enthalten, welche auch ein
ordentliches Gesetz nach den Vorschriften der Verfassung nicht enthalten dürfte. Denn
die Grundsätze der Verfassung sind gleichmäßig bindend für jede Gattung der Spezial=
gesetze, also sowohl für die im ordentlichen Wege der Gesetzgebung (Art. 62) zu er-
lassenden Gesetze, als auch für die Verordnungen mit Gesetzeskraft (Art. 63). Daher
darf eine Notverordnung nichts bestimmen, was nach der Verfassung überhaupt an-
zuordnen verboten ist. Sie darf aber auch nichts enthalten, was in irgendeiner Weise
die in der Verfassung niedergelegten Grundsätze des Verfassungsrechts ändert oder auf-
hebt. Es dürfen daher namentlich die verfassungsmäßigen Grundsätze derjenigen Artikel
nicht verletzt oder gar aufgehoben werden, welche die sog. Grundrechte feststellen (näm-
lich der Art. 3—42), weil diese Rechte auch für die ordentliche Gesetzgebung maßgebend
sind und nur teilweise im Falle der Erklärung des Belagerungszustandes (Art. 111)
zeit= und distriktsweise suspendiert werden dürfen. Ebensowenig ist es statthaft, in einer
Notverordnung die Fundamentalsätze der durch die Verfassung eingeführten konstitutionellen
Staatsform zu verletzen; es ist daher unzulässig, eine Notverordnung zu erlassen, welche
die Grundsätze der Ministerverantwortlichkeit (Art. 61), des Zweikammersystems (Art. 62),
der in der Verfassungsurkunde und in den darin (Art. 115) in Bezug genommenen,
mithin einen integrierenden Teil derselben bildenden Wahlgesetzen festgestellten Normen
über Wahlen, Wahlrecht und Wählbarkeit (Art. 65— 75), ferner die Bestimmungen über
Berufung der Kammern und die Rechte der Kammern und ihrer Mitglieder (Art. 62,
76—85), desgleichen die verfassungsmäßigen Grundsätze von der richterlichen Gewalt
(Art. 86—97) und von der Ausübung der Finanzgewalt (Art. 99—104) abändert,
beschränkt oder suspendiert. Alle diese durch die Verfassungsurkunde festgestellten kon-
stitutionellen Grundlagen des Verfassungsrechtes bilden vielmehr wie für die gesamte
Gesetzgebung so insbesondere auch für die Notverordnung eine unüberschreitbare Schranke.
Dagegen sind Notverordnungen zulässig auch für dasjenige Gebiet, welches die Ver-
1 Über die bei der Beratung des Art. 63 ge- 2 Z. B. die Einführung der Zensur, vgl. Art. 27,
stellten, indes nicht angenommenen Anträge auf Abs. 2 der Verf. Urk.
eine engere Begrenzung der Gegenstände, auf 3 Vgl. die in der 46. Sitz. der 2. K. v. 21. März
welche sich oktroyierte Verordnungen beziehen 1851 entwickelten Ansichten (Gr. v. Arnim) über
dürfen, vgl. die Zusammenstellung in v. Rönnes den Gegenstand (Stenogr. Ber. der 2. K. 1850
Bearbeitung der Verf. Urk., S. 123. —51, Bd. I, S. 651 ff.).