52 Die Gesetzgebung. (§. 116.)
wie Gesetze, also in der Gesetzsammlung zu publizieren sind und daß nur diese Publi-
kation als die „vom Gesetze vorgeschriebene Form“ (Verf. Urk., Art. 106, Abs. 1) anzu-
erkennen sei, demgemäß alle nicht in dieser Form publizierten „Rechtsverordnungen“ nicht
als „verbindlich“ zu betrachten seien; „vom Gesetze vorgeschrieben“ ist jedoch diese Form
der Publikation für keine Art von Verordnungen, sie wird nur gefolgert aus dem be-
haupteten allgemeinen Rechtsgrundsatze, daß Rechtssätze nur durch Gesetz oder kraft
Delegation des Gesetzgebers aufgestellt werden können.
S. 116.
Prüfung der Rechtsgültigkeit der Gesetze und Verordnungen.
I. Die Verfassungsurkunde bestimmt in Art. 106: a) daß Gesetze und Verord-
nungen verbindlich sind, wenn sie in der vom Gesetze vorgeschriebenen Form bekannt ge-
macht sind (Abs. 1), b) daß die Prüfung der Rechtsgültigkeit königlicher Ver-
ordnungen nicht den Behörden, sondern nur den Kammern zusteht (Abs. 2).
Die Entstehungsgeschichte dieses Artikels 3 ergibt, daß in dem der Nationalversamm-
lung vorgelegten Verfassungsentwurf v. 20. Mai 1848 eine dem jetzigen Art. 106 ent-
sprechende Bestimmung überhaupt nicht enthalten war. Dagegen heißt es in dem
Art. 103 des Entwurfes der Verfassungskommission der Nationalversammlung: „Kein
Gesetz, keine Verordnung ist verbindlich, wenn sie nicht zuvor in der vom Gesetze vor-
geschriebenen Form bekannt gemacht worden ist“; dieser Satz wurde in die oktroyierte
Verfassungsurkunde v. 5. Dez. 1848 als Abs. 1 des Art. 105 in folgender Fassung
aufgenommen: „Gesetze und Verordnungen sind nur verbindlich, wenn sie zuvor in
der vom Gesetze vorgeschriebenen Form bekannt gemacht worden sind.“ Bei der Revision
der Verfassung wurden dann die Worte „nur“ und „zuvor“ als überflüssig gestrichen
und es wurde der Satz als Abs. 1 des jetzigen Art. 106 in die Verfassungsurkunde
v. 31. Jan. 1850 aufgenommen. Dagegen war weder in den früheren Entwürfen,
noch in der oktroyierten Verfassungsurkunde v. 5. Dez. 1848 eine dem Abs. 2 des
jetzigen Art. 106 entsprechende Bestimmung enthalten. Bei der Revision der Verfassung
hatte zwar die Erste Kammer die Hinzufügung einer solchen Bestimmung beschlossen,
doch wurde dies von der Zweiten Kammer abgelehnt.5 Als jedoch die königliche Bot-
1 S. über die ganze große Streitfrage oben
S. 1—2, dort auch die Literatur; s.auch G. Meyer-
Anschütz, Lehrb., S. 574, Note 9. Gegen die
herrschende Lehre (Laband, Härel, G. Meyer, An-
schütz, O. Meyer, Hubrich, Schulze, Binding,
Gierke) s. die Ausführungen von Arndt, Verf.
Urk., S. 364 f. und in zahlreichen anderen Er-
örterungen, bes. Verordnungsrecht, S. 210 ff.;
ferner Löning, Seydel, Rosin, Zorn, Bornhak.
Vgl. auch die Entsch. d. Reichsger. in Zivils. 40,
68; 4, 314; 44, 76; 48, 84. dazu Laband im
Arch. f. öfftl. N., B. XVIII, S. 305 ff.
2 Literaturangaben bei Bischof in der Zeitschr
f. Zivilrecht u. prozeß (Gießen 1859), Bd. XVI,
S. 245 ff., 585 ff., und bei G. Meyer-Anschütz,
Staaterecht, §. 173, S. 630 ff.
3 Vgl. v. Rönnes Bearbeitung der Verf.
Urk. zu Art. 63 u. 106, S. 121—126, 205— #
und dess. Verf. Aufsatz in Aegidis Zeitschr.
D. St. R., Bd. I, S. 390—395. Scharf 4u
lehnend kritisiert v. Schulze, Pr. St. R.,
S. 46 f., den Abs. 2 des Art. 106 als Afoll.
tistischen überrest des positiven preuß. Staatsrechts.
S.a. Schwartz,Verf Urk., S.333; Arndt, Verf.
Urk., S. 363 ff.; R. John, Rechtsgültigkeit und
berbindlichkeit publizeerter Gesetze u. Verordnun-
gen, in Aegidis Zeitschr. f. D. St. R., Bd. I,
S. 244 ff. Die bei Interpretation des Art. 106,
Abs. 2 von den Schriftstellern erörterte Frage,
ob der König, gestützt auf diese Verfassungsvor-
schriften, durch Verordnung die Verfassung auf-
heben könne, entzieht sich jeder rechtlichen Er-
örterung. Für Staatsstreiche, selbst wenn sie
politisch unbedingt notwendig wären, versagt das
Staatsrecht.
4 Dieser Satz entspricht auch dem §. 10 der
Einl. zum A. L. R.: „Das Gesetz erhält seine
rechtliche Verbindlichkeit erst von der Zeit an,
da es gehörig bekannt gemacht worden.“ Vgl.
auch Art. 1 des Code Napoléon.
5 Die 1. Kammer hat folgende Bestimmung
beschlossen: „Entstehen Zweifel darüber, ob ge-
hörig verkündigte, ohne Mitwirkung der Kam-
mern erlassene Gesetze oder Verordnungen dieser
Mitwirkung der Kammern bedurften, so steht nur
den Kammern zu, über die Gültigkeit solcher Ge-
setze und Verordnungen Beschlüsse zu fassen.“
Nachdem die 2. Kammer die Aufnahme dieser
Bestimmung abgelehnt hatte, beschloß die 1. Kam-
mer anderweitig deren Beibehaltung, jedoch mit
Weglassung der Worte „Gesetze oder“ bzw.
„Gesetze und", was jedoch ebenfalls von der
2. Kammer abgelehnt wurde.