Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Dritter Band. Erste Abteilung. (3_1)

Prüfung der Rechtsgültigkeit der Gesetze und Verordnungen. (§. 116.) 53 
schaft v. 7. Jan. 1850 (Proposition XIII) die Aufnahme einer solchen Bestimmung in 
die Verfassungsurkunde forderte, ließen die Revisionskammern sich bewegen, diese, und zwar 
in der jetzigen Fassung des Abs. 2 des Art. 106, in die Verfassungsurkunde aufzunehmen. 
Die Proposition XIII hatte die Annahme folgender Bestimmung verlangt: „Die Rechts- 
gültigkeit gehörig verkündeter Verordnungen kann nur von den Kammern zur Erörterung 
gezogen werden.“ Die Motive begründeten dies damit, daß die Grenze zwischen dem 
Gebiet der Gesetzgebung und dem der Verordnungen, welche die Vollziehung der 
Gesetze vermitteln, in vielen Fällen schwer zu ziehen sei, daß diese Schwierigkeit sich 
um so mehr zeigen werde, als sich unter der früheren Regierungsform keine Veranlassung 
dargeboten habe, die betreffenden Grundsätze näher zu entwickeln. Die Kammern seien 
berufen, ihre verfassungsmäßigen Rechte auch in dieser Beziehung zu wahren, solange 
keine derselben behaupte, daß durch Erlaß einer Verordnung in das Gebiet der Gesetz- 
gebung eingegriffen sei, müßten die Gerichte und die anderen Behörden die Verordnung 
als verfassungsmäßig erlassen um so mehr ansehen, als entgegengesetzten Falles die drei 
Faktoren der Gesetzgebung, obgleich sie übereinstimmend der Ansicht waren, daß eine 
bloße Verordnung genüge, zum Erlaß eines Gesetzes genötigt werden könnten, welches 
bestimmte, daß es zur Regelung der Angelegenheit, über welche die Verordnung ergangen 
sei, eines Gesetzes nicht bedürfe. Die Möglichkeit, daß bis zu dem Zusammentritt der 
Kammern eine Verordnung vollzogen werden müsse, zu deren Erlaß dieselben ihre Mit- 
wirkung in Anspruch nehmen, sei bei der Verantwortlichkeit der Minister für Verfassungs- 
verletzungen weit weniger bedenklich als die Eventualität, daß verfassungsmäßig erlassene 
und als solche von den Kammern ausdrücklich oder stillschweigend anerkannte Verord- 
nungen von den Behörden tatsächlich außer Anwendung gesetzt würden. Die Behörden 
müßten sich von Fragen fernhalten, die ihrer Natur nach lediglich dem Gebiet der ge- 
setzggebenden Gewalten angehören. Die Kammern beschlossen nunmehr die vorgeschlagene 
Proposition zwar nicht in der verlangten, wohl aber in derjenigen Fassung anzunehmen, 
welche jetzt der Abs. 2 des Art. 106 enthält, insbesondere also mit der Beschränkung 
auf königliche Verordnungen, also sowohl auf Notverordnungen gemäß Art. 63 als auf 
königliche Verordnungen gemäß Art. 45, so daß also die Prüfung der Rechtsgültigkeit 
aller nicht vom König selbst erlassenen Verordnungen, insbesondere der Verordnungen der 
Minister, den Behörden durch den Abs. 2 des Art. 106 nicht entzogen ist. 
Nach den Bestimmungen des jetzigen Art. 106 der Verfassungsurkunde kann nun 
zunächst darüber kein Zweifel obwalten, daß keine Behörde das Recht hat, eine Prü- 
fung darüber anzustellen, ob ein gehörig verkündetes Gesetz oder eine gehörig verkündete 
königliche Verordnung an sich notwendig oder zweckmäßig sei oder nicht; vielmehr 
gehört die Prüfung dieser Frage und die Entscheidung hierüber lediglich der Gesetzgebung 
an und muß deshalb ausschließlich dem Befinden der Faktoren der gesetzgebenden Gewalt 
anheimfallen. Verschieden hiervon ist allerdings die Frage nach der Rechtsgültigkeit 
gehörig verkündeter Gesetze und königlicher Verordnungen. In dieser Beziehung kann es 
nun aber nach den Bestimmungen des Abs. 1 des Art. 106 der Verfassungsurkunde nicht 
in Zweifel gezogen werden, daß die Behörden, insbesondere auch die Gerichte, grund- 
sätzlich nicht bloß berechtigt, sondern auch verpflichtet sind, bei der Anwendung eines 
Gesetzes oder einer königlichen Verordnung 2 die Vorfrage zu prüfen und darüber zu 
  
1 Auch in der Beschränkung der Bestimmung 
des Abs. 2 des Art. 106 auf königliche Ver- 
ordnungen ist die Bestimmung gegen den Antrag 
des Zentralausschusses der 2. Kammer zur An- 
nahme gelangt, welcher die Ablehnung der Pro- 
position XIII empfohlen hatte, indem er hierfür 
insbesondere geltend machte, „daß der Richter 
durch die ihm nachzulassende Prüfung keineswegs 
über die Sphäre seiner Wirksamkeit hinausgehe, 
die ihn verpflichte, nur das zur Grundlage seiner 
Entscheidungen zu machen, was er nach seinem 
besten Wissen und Gewissen für verbindliche 
Norm erachte, und weil ihm insbesondere nicht 
  
entzogen werden dürfe, zu prüfen, ob eine oktr. 
Verordnung der Verfassung zuwiderlaufe, wo- 
gegen der in Rede stehende Zusatz die Bestim- 
mung des Art. 63 in das Maßlose erweitern und 
den Sinn für die Heiligkeit des Gesetzes mehr 
schwächen würde, als die Abweichungen der Ent- 
scheidungen verschiedener Gerichtshöfe, und das 
Ansehen des Richterstandes mehr herabwürdige, 
als diese.“ 
: Nur von königlichen Verordnungen, nicht 
auch von Verordnungen der Minister oder an- 
derer Behörden ist in dem Art. 106, wie auch 
dessen oben mitgeteilte Entstehungsgeschichte er-
	        
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