Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Dritter Band. Erste Abteilung. (3_1)

56 Die Gesetzgebung. (§. 116.) 
königlichen Verordnungen auf die Beobachtung der Form der Verkündigung (Publi- 
kation) zu beschränken; sie darf dagegen niemals in das Materielle des Gesetzes oder 
der Verordnung eingehen. 
Da die Verfassung des Deutschen Reiches keine dem Art. 106 der preußischen 
Verfassungsurkunde entsprechende Bestimmung enthält, so kann der rein positiv preußische 
Satz dieses Artikels auch im preußischen Staate auf Reichsgesetze und Reichsverord- 
nungen nicht zur Anwendung gebracht werden?; da die Reichsverfassung überhaupt 
gar keine Bestimmungen über das Prüfungsrecht hinsichtlich der Reichsgesetze und 
Reichsverordnungen enthält, so sind in dieser Beziehung lediglich die allgemeinen 
staatsrechtlichen Grundsätze maßgebend. 
Hierüber führte v. Rönne, 4. Aufl., Bd. I, S. 407 ff. aus: „Die Ansicht, daß den Gerichten 
nur die Befugnis zustehe, zu untersuchen, ob die formellen Erfordernisse der Publikation erfüllt seien s, 
ist von der Mehrzahl der deutschen Staatsrechtslehrer verworfen worden, welche vielmehr annehmen, 
daß dem Richter auch das Recht gebühre, das verfassungsmäßige Zustandekommen der Gesetze und 
  
die materielle Gesetzmäßigkeit der Verordnungen zu untersuchen und darüber zu entscheiden."“ Diese 
setzen und Verordnungen zu machen sei und Art. 106 der Verf. Urk. vgl. Waldeck, in den 
daß nur bei letzteren, nicht aber bei ersteren das 
richterliche Prüfungsrecht ausgeschlossen sei, be- 
ruht auf unrichtiger Anschauung. Das Prüfungs- 
recht ist bei beiderlei Gattungen ganz dasselbe, 
d. h. ein rein formelles. Wenn der Abs. 2 des 
Art. 106 das materielle Prüfungsrecht der Be- 
hörden schon bei königl. Verordnungen den Be- 
hörden verbietet und nur den Kammern gestattet, 
so versteht sich dies Verbot bei Gesetzen ganz 
von selbst, weil dasselbe hier bereits von den 
(dazu allein zuständigen) Kammern ausgeübt 
worden ist und die Behörden in dieser Beziehung 
nicht mehr Rechte haben können als die Kam- 
mern. Vgl. die Abhandl. in Aegidis Zeitschr. f. 
D. St. R., Bd. I, Heft 3, S. 398, Note 24; 
desgl. John in der Abhandl. a. a. O., Bd. I, 
Heft 3, S. 267—268. 
1 Die v. Rönnesche Ansicht, gegen wecche sih 
der Aufsatz eines Anonymus (E. A. Chr.) 
Aegidis Zeitschr. f. D. St. R., Bd. I, S. Noß 
richtet, ist näher ausgeführt und begründet in. 
dem a. a. O., S. 385 ff. abgedruckten Aufsatze: 
„Über das richterliche Prüfungsrecht bezüglich 
der Rechtsgültigkeit von Gesetzen und Verord- 
nungen nach preuß. Staatsrecht.“ Gegen die Aus- 
führungen des erwähnten Anonymus vgl. auch 
John, Rechtsgültigkeit und Verbindlichkeit publi- 
zierter Gesetze und Verordnungen nach den Grund- 
sätzen des preuß. Staatsrechts, a. a. O., S. 244 ff., 
und gegen die beiden vorgedachten Aufsätze: E. A. 
Chr., Zur Entstehungsgeschichte und Auslegung des 
Art. 106 der preuß. Verfassung. Eine Entgeg- 
nung auf die Aufsätze von John und v. Rönne 
im 3. Hefte der Zeitschr. f. D. St. R. (Hamburg 
1866). Mit v. Rönne übereinstimmend E. H. 
in der D. Gerichtsztg., Jahrg. 1866, S. 95—96. 
Die richtige Ansicht bei v. Schulze, Pr. St. R., 
Bd. II, S. 46, G. Meyer-Anschütz, S. 654, 
und Bornhaks, 1, S. 555, daß, zufolge des 
Art. 106 der Verf. Urk., das Prüfungsrecht aller 
Behörden, auch der Gerichte, sich lediglich auf 
die Frage beschränke, ob die formellen Erforder- 
nisse der Publikation, d. h. Verkündigung in der 
Gesetzsammlung und Gegenzeichnung eines ver- 
antwortlichen Ministers, vorliegen. Letzteres muß 
überdies noch, wie oben ausgeführt, auf Verord- 
nungen eingeschränkt werden. liber die dem A. H. 
1861 überreichte Petition auf Aufhebung des Die Selbständigkeit des Richteramtes, 
  
Stenogr. Ber. des A. H. 1861, Bd. II, S. 626fff. 
2 Vxgl. v. Schulze, Pr. St. R., Bd. I, 
S. 47: G. Meyer-Anschütz, §. 173; Fr. 
v. Holtzendorff, eichenlar. u. Landesstrafr. in 
Deutschland, 1871, S. 16 ff.; Förster, Theorie 
und Praxis des preuß. Privatr., Bd. 1, S. 34, 
Anm. 2. — Vgl. auch Laband, St. R.-, Bd. II, 
S. 442, welcher insbesondere (S. 122) bemerkt, 
daß die landesgesetzlichen Vorschriften über das 
Recht der Behörden, die Rechtsgültigkeit ge- 
hörig verkündeter landesherrlicher Gesetze oder 
Verordnungen zu prüfen, wie sie z. B. der Art. 106 
der preuß. Verf. Urk. aufstellt, sich nicht auf das 
Verhältnis der vom Einzelstaate angeordneten 
Rechtssätze zu den von einer übergeordneten 
Gewalt ausgehenden Anordnungen, sondern auf 
die Betätigung der Gesetzgebungsbefugnis inner- 
halb der Machtsphäre des Einzelstaates beziehen. 
3 Diese Ansicht verteidigen insbesondere: Linde, 
Arch. für zivil. Praxis, Bd. XVI, S. 305 ff.; 
Stabel (Vortrag über Französ. Zivilr. ., 1843, 
S. 23); Zöpfl (Grundsatz des allgem. und D. 
St. R., 4. Aufl., Bd. II, S. 629 ff., 5. Aufl., 
Bd. II, §. 451, S. 577 f.); v. Held (System 
des Verf. R., Bd. II, S. 95 ff.); Stahl grah 
sophie des Rechts, 2 Ausg., Rd. II, Abt. 2 
S. 670 ff.); Bischof (in der Gießener Zeitschr., 
N. F., Bd. XVI, S. 235 ff., Bd. XVII, S. 104 f.3 
253 ff., 448 ff., Bd. r--p. S. 129 ff., 302 ff., 
353 v. Kaltenborn (Einl. in das konstit. 
Verf. R., S. 351 ff.); Böhlau, Mecklenburg. 
Landr., Bd. J, §. 50; Ulmann, Zur Frage des 
richterl. Prüfunger. hinsichtlich der inneren Ver- 
fassungsmäßigkeit von Gesetzen und Verordnungen, 
in der Zeitschr. für die gesamte Staatswissenschaft, 
Bd. XXIV, S. 333ff. 
4 Diese Ansicht erachten für die richtige: 
C. S. Zachariä, Arch. für zivil. Praxis, Bd. XVI, 
S. 142 ff.; C. G. Wächter, Handb. des im Königr. 
Württemberg geltenden Privatr., Bd. II, §. 7, 
S. 26, und im Arch. für zivil. Praxis, Bd. XXIV, 
S. 238, Note; Jordan, Arch. für zivil. Praxis, 
Bd. VIII, S. 214; Pfeiffer, Prakt. Ausfüh- 
rungen, Bd. II, S. 385 ff., Bd. III, S. 279ff., 
und dessen Schrift: Die Selbständigkeit und Un- 
abhängigkeit des Richteramtes, 1851; Klüber, 
Offentl. R. des D. B., S. 555, und dessen Schrift: 
1832;
	        
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