Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Dritter Band. Erste Abteilung. (3_1)

58 Die Gesetzgebung. (§. 116.) 
denn die beiden Erfordernisse der Verkündigung und der Zustimmung der beiden gesetzgebenden Fak- 
toren sind nebeneinander und unabhängig voneinander (Art. 2 und Art. 5 der Reichsverfassung) 
vorgeschrieben; ein Reichsgesetz kann lediglich wegen seiner Verkündigung, ohne Rücksicht, ob die 
übrigen Erfordernisse vorhanden sind, keine verbindliche Kraft haben. Aber auch die Verkündigung 
eines Reichsgesetzes und die Zustimmung des Bundesrates und des Reichstages zu demselben können 
das fernere Erfordernis, nämlich das der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, nicht ersetzen; denn 
auch dieses Erfordernis ist ein wesentliches, weil das Reich das Recht der Gesetzgebung nur „nach 
Maßgabe des Inhaltes seiner Verfassung“ besitzt. Auch dieses Erfordernis besteht unabhängig von 
den beiden anderen. Ein Reichsgesetz, welchem eins der gedachten drei Erfordernisse fehlt, besitzt 
nicht die verbindliche Kraft eines solchen und ist daher ungültig, sowohl für die Reichsbürger als 
für die Einzelstaaten. Unzweifelhaft sind daher in erster Linie die beiden gesetzgebenden Körper- 
schaften des Reiches, welche einen Gesetzentwurf zu beraten haben, verpflichtet, sich der Prüfung zu 
unterziehen, ob derselbe verfassungsmäßig zulässig ist, d. h. die Schranken innehält, welche die Reichs- 
verfassung der Reichsgesetzgebung gezogen hat. Wenn aber ein Reichsgesetz gehörig verkündigt worden 
ist, und alsdann der Zweifel entsteht, ob das verkündigte Reichsgesetz mit der Reichsverfassung im 
Einklange steht oder nicht, insbesondere auch dann, wenn die Frage gestellt wird, ob das Gesetz die 
Grenzen innegehalten hat, welche der Reichsgesetzgebung gegenüber den Einzelstaaten durch die Reichs- 
verfassung gezogen sind, sind die Gerichte im Falle einer zu ihrer Entscheidung gestellten Streitsache 
berufen, diese Frage zu untersuchen und darüber zu entscheiden; dies gilt auch alsdann, wenn die 
Rede ist von einer von den Organen des Reiches erlassenen Verordnung, wobei dann nicht bloß die 
Frage entstehen kann, ob die Verordnung von dem zuständigen Organe (vom Bundesrate oder vom 
Kaiser oder von einer autorisierten Reichsbehörde) erlassen worden ist, sondern auch die, ob der In- 
halt der Verordnung mit den Reichsgesetzen im Einklange steht, sowie, ob dieselbe die dem Ver- 
ordnungsrechte gezogene Grenze innegehalten hat oder nicht.“ Da die Reichsverfassung keine Vor- 
schrift enthält, welche nach dieser Richtung hin die Befugnisse der Gerichte beschränkt, so dürfen auch 
die preußischen Gerichtshöfe sich in denjenigen Fällen, wo es sich um die Anwendung von Reichs- 
gesetzen und Reichsverordnungen handelt, der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit und Gesetzmäßig- 
keit derselben nicht entziehen. 
Was sodann die Frage betrifft, ob die Behörden der Einzelstaaten, sowohl die Gerichte als die 
Verwaltungsbehörden, das Recht und die Pflicht haben, die Zulässigkeit eines Landesgesetzes oder 
einer landesherrlichen Verordnung gegenüber einem Reichsgesetze bzw. der Reichsverfassung zu 
prüfen, so kann nicht in Zweifel gezogen werden, daß jede Behörde verpflichtet ist, sich der Prü- 
fung zu unterziehen, welcher Rechtssatz auf den konkreten zu ihrer Entscheidung stehenden Fall zur 
Anwendung zu bringen ist. Wenn sich bei dieser Prüfung ein Widerspruch zwischen einem Reichs- 
gesetze bzw. der Reichsverfassung und einem früher oder später erlassenen, obwohl formell 
gültig publizierten Verfassungs= oder einfachen Gesetze eines Einzelstaates bzw. einer Verordnung 
oder Verfügung eines Einzelstaates ergibt, so ist die Behörde des Einzelstaates verpflichtet, auf 
den ihrer Kognition unterstellten Fall nicht die Vorschrift des Einzelstaates, sondern die des 
Reichsrechtes anzuwenden und der mit letzterer nicht im Einklange stehenden Norm des Einzelstaates 
die Anwendung zu versagen.? Dies folgt einfach aus dem Satze des Art. 2 der Reichsverfassung, 
„daß die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen“"3; daraus ergibt sich auch das Recht und die 
Pflicht der Behörden, in einem Falle der Kollision auch über die Rechtsgültigkeit der Reichsnorm 
selbst zu befinden, indem diese Rechtsgültigkeit und nicht bloß die Beobachtung der Form der Ver- 
kündigung, die verfassungsmäßige Bedingung für das Vorgehen der Keichsnorm vor der Norm des 
Einzelstaates ist. Solchergestalt sind also die Gerichtshöfe zur endgültigen Auslegung der Reichs- 
  
1 Den Grundsatz, daß die Gerichte auch zu 
der Prüfung berechtigt sind, ob ein Reichsgesetz 
einen materiell verfassungsmäßigen In- 
halt hat, nehmen auch Westerkamp, Uber die 
Reichsverf., S. 200 ff., und Hänel, Studien 
zum D. St. R., Bd. I, S. 262 f. anu. Anderer 
Ansicht: Laband, St. R.““, Bd. II, §. 55, S. 45 ff., 
welchem Zorn (St. R. des D. R. 2, Bd. I, §. 15, 
S. 416) beitritt, und G. Meyer-Anschütz, 
Lehrb. des D. St. R., §. 173. 
2 Unabhängig von dem Rechte und der Pflicht 
der Behörden, in den zu ihrer Entscheidung ge- 
langenden Fällen der Vorschrift eines Einzel- 
staates die Anwendung zu versagen, wenn diese 
mit einer reichsrechtlichen Norm im Widerspruche 
steht, gebührt auch dem Reiche das Recht, die 
Ausführung der Reichsgesetze zu überwachen und 
die in Art. 4 der Reichsverf. aufgeführten An- 
gelegenheiten zu beaufsichtigen, woraus sich das 
Recht des Reiches ergibt, im Falle der Kollision 
eines Landesgesetzes mit einer reichsrechtlichen 
  
Norm, die betreffende Einzelstaatsregierung zur 
Zurücknahme oder Abänderung der mit dem 
Reichsrechte unvereinbaren landesrechtlichen Be- 
stimmung zu veranlassen. Vgl. Laband, St. R., 
Bd. II, §. 61, und Hirths Annalen, Jahrg. 1873, 
S. 484 ff. 
3 Dieser Ansicht sind auch: v. Holtzendorff, 
Reichs= und Landesstrafrecht, S. 16; v. Schulze, 
Pr. St. R., Bd. II, §. 175, S. 47; Heinze, 
Verhältnis des Reichsstrafr. zum Landesstrafr. 
(1871), S. 134 ff.; Hauser, Reichsverfassung, 
S. 31; G. Meyer, Lehrb. des D. St. R., §. 179; 
Laband, St. R., Bd. II, §. 59, S. 122 ff., 
welcher besonders hervorhebt, daß ein Widerspruch 
zwischen einem Reichsgesetze und einem Landes- 
gesetze nicht nur dann vorliege, wenn das Reichs- 
gesetz eine andere Rechtsvorschrift aufstellt als 
das Landesgesetz, sondern auch in dem Falle, 
wenn das Reich den Erlaß einer landesgesetz- 
lichen Vorschrift ausdrücklich oder stillschweigend 
untersagt hat.
	        
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