Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Dritter Band. Erste Abteilung. (3_1)

Prüfung der Rechtsgültigkeit der Gesetze und Verordnungen. (8. 116.) 59 
verfassung insofern berufen, daß sie im gegebenen Falle darüber zu entscheiden haben, wieweit die 
legislative Zuständigkeit des Reiches geht und ob ein Gesetz oder eine Verordnung des Reiches ver- 
fassungsmäßig ist, desgleichen darüber, ob ein Gesetz oder eine Verordnung eines Einzelstaates mit 
der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen in Widerspruch steht, und daß sie, insoweit dies der Fall 
ist, gerpflichtet sind, das betreffende Gesetz oder die betreffende Verordnung nicht zur Anwendung 
zu bringen.“ 
Diese Deduktion v. Rönnes erscheint nach verschiedenen Richtungen nicht zutreffend: 
1. Ein Prüfungsrecht für Reichsgesetze besteht nur in dem gleichen Umfange 
wie nach dem oben Ausgeführten für preußische Gesetze. Die Behörden haben somit 
lediglich darüber sich zu vergewissern, ob das Gesetz als solches im offiziellen Reichs- 
gesetzblatt publiziert ist. Weder ist eine Bezugnahme auf die erfolgte Zustimmung von 
Bundesrat und Reichstag noch eine verantwortliche Gegenzeichnung des Reichskanzlers 
rechtliches Erfordernis für die Verbindlichkeit: beides ist allerdings hergebracht und 
zweckmäßig. Das Gesetz, das als solches ordnungsmäßig publiziert ist, ist damit Gesetz; 
die Prüfung des „verfassungsmäßigen Zustandekommens“ entzieht sich durchaus der Mög- 
lichkeit der Prüfung durch Behörden und Gerichte. 
Insbesondere kann unter keinen Umständen den Behörden die Befugnis eingeräumt 
werden, die Zuständigkeit des Reiches gegenüber den Einzelstaaten zu prüfen. Diese 
Prüfung vollzieht sich lediglich durch die gesetzgebenden Faktoren des Reiches in den hier- 
für durch die Reichsverfassung vorgeschriebenen Formen. 
2. Ein Prüfungsrecht für Reichsverordnungen besteht im Rahmen der all- 
gemeinen Grundsätze. Eine Beschränkung, wie die durch Art. 106, Abs. 2 der preußi- 
schen Verfassungsurkunde für königliche Verordnungen begründete, besteht nach Reichsstaats- 
recht nicht. Demnach ist bezüglich der kaiserlichen Verordnungen zu prüfen: a) ob sie 
wie vorgeschrieben im Reichsgesetzblatt publiziert sind, b) ob sie vom Reichskanzler oder 
einem seiner Stellvertreter gegengezeichnet sind. Dagegen sind bei den zahlreichen und 
wichtigen Verordnungen des Bundesrates Rechtsvorschriften nach keiner der beiden an- 
gegebenen Richtungen vorhanden. Alle Reichsverordnungen dürfen und müssen 
demnach von den zur Anwendung berufenen Behörden auf die Gesetzmäßig- 
keit ihres Inhaltes geprüft werden: Verordnungen, deren Inhalt gegen 
ein Gesetz verstößt, sind nichtig und können demgemäß nicht zur Anwen- 
dung gebracht werden. 
Die Gerichtshöfe sind indes nur in den einzelnen zu ihrer Entscheidung gelan- 
genden Streitsachen berufen, das ihnen zustehende Prüfungsrecht auszuüben, so daß also 
in allen Fällen, welche nicht ihrer Kognition unterstellt werden, ihre Entscheidung über 
die Frage der Verfassungsmäßigkeit eines ordnungsmäßig publizierten Gesetzes bzw. einer 
Verordnung nicht eintreten kann; denn sie sind nicht berechtigt, eine als Gesetz oder Ver- 
ordnung auftretende Norm überhaupt für rechtsungültig zu erklären. Die streitig 
gewordene Rechtsfrage unterliegt stets dem gesetzlich geordneten Instanzenzuge, so daß die 
Entscheidung der höheren richterlichen Instanz zwar für den einzelnen Fall formelles 
Recht schafft, jedoch keine allgemein verbindliche Kraft erlangen kann. In Anwendung 
auf das Prüfungsrecht der Verwaltungsbehörden kommt überdies in Betracht, daß 
der für die Gerichte geltende Grundsatz, daß dieselben keiner anderen Auntorität als der 
des Gesetzes unterworfen sind (Art. 86 der Verfassungsurkunde, §. 1 des Gerichts- 
verfassungsgesetzes v. 27. Jan. 1877), auf die Verwaltungsbehörden nicht gleichmäßig 
zur Anwendung gelangen kann. Diese genießen vielmehr nicht die Unabhängigkeit der 
Gerichte, sondern sind, wie es das Wesen des Verwaltungsdienstes erfordert, gegenüber 
den übergeordneten Behörden zu verfassungsmäßigem Gehorsam verpflichtet, und wenn- 
gleich eine unbedingte Gehorsamspflicht für sie nicht besteht, so kann ihnen doch anderer- 
seits ein Prüfungsrecht bezüglich der Verfassungs= und Gesetzmäßigkeit der Verordnungen 
nur insoweit zugestanden werden, als dies mit den Notwendigkeiten des verwaltungsrecht- 
lichen Dienstgehorsams vereinbar ist. Danach sind Verordnungen der vorgesetzten In- 
stanzen in der Regel als gültig zu betrachten und einfach auszuführen. Ergeben sich 
jedoch Zweifel, so sind die allgemeinen Grundsätze über das Prüfungsrecht die nämlichen. 
wie für die Gerichte; nur werden diese Bedenken zunächst soweit als möglich auf dienst-
	        
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