Provinzialgemeinden; geschichtliche Entwickelung der Provinzialgemeinden. (§. 129.) 435
III. Den Anstoß zu einer grundsätzlichen und dauernden Reform der Provinzial=
verfassungen gab erst der Erlaß der Kreisordnung für die östlichen Provinzen v.
13. Dez. 1872. Nachdem es gelungen war, die Kreisverfassung auf neuen Grundlagen,
unter Aufgabe der alten ständischen Prinzipien, aufzubauen und den Kreisen durch Über-
weisung weiterer Befugnisse, durch Üüberweisung von Geldmitteln und Schaffung unab-
hängiger Organe die Entwickelung einer lebenskräftigeren Selbstverwaltung zu sichern,
sollten auch die Provinzialverfassungen nach gleichen Gesichtspunkten umgestaltet werden.
Anknüpfungspunkte konnten hierfür in vieler Beziehung die in den neuen Provinzen
bereits bestehenden Einrichtungen bieten. Zwar galt auch hier noch durchweg das stän-
dische Prinzip, allein die Verwaltung der kommunalen Angelegenheiten war eine freiere
und umfangreichere: es gab selbständige Kommunalorgane in dem Verwaltungsausschusse,
dem Landesdirektorium und dem Landesdirektor, die Provinzialverbände hatten das Be-
steuerungsrecht, und endlich waren der Provinz Hannover und den Regierungsbezirken
Wiesbaden (ohne Frankfurt a. M.) und Kassel durch die Gesetze v. 7. März 1868
(G. S., S. 223) und v. 11. März 1872 (G. S., S. 267) und durch den Allerhöchsten
Erlaß v. 16. Sept. 1867 (G. S., S. 1528) erhebliche Summen aus Staatsfonds! und
entsprechende Verwaltungsangelegenheiten, die bis dahin dem Staate obgelegen hatten,
überwiesen.
Die Reform wurde vorbereitet durch Ausstattung der Provinzial= und der diesen
gleichgestellten Verbände mit materiellen Mitteln. Es erging zunächst das Gesetz be-
treffend die Dotation der Provinzial= und Kreisverbände vom 30. April 1873 (G. S.,
S. 187), welches den Provinzialverbänden von Preußen (später Ost= und West-
preußen), Brandenburg, Pommern, Posen, Schlesien, Sachsen, Schleswig-
Holstein, Westfalen und der Rheinprovinz, dem Stadtkreise Frankfurt a. M.,
dem Landeskommunalverbande der Hohenzollernschen Lande und dem Provinzial-
verbande von Hannover, letzterem für das ihm durch zwei Gesetze v. 23. März 1873
(G. S., S. 107 u. 119) einverleibte Jadegebiet, behufs Ausstattung mit Fonds zur
Selbstverwaltung aus der Staatskasse die Summe von jährlich 2 Millionen Thlr. über-
wies. Noch in demselben Jahre sollte eine neue Provinzialordnung für die östlichen
Provinzen zu stande kommen, allein der von der Regierung eingebrachte Entwurf?
erhielt nicht die Zustimmung des Abgeordnetenhauses, weil man, abgesehen von anderen
hier nicht zu erörternden Bedenken, annahm, daß der den Provinzen anvertraute Ge-
schäftskreis zu beschränkt und die ihnen überwiesenen Dotationen zu gering seien, um
sie als Selbstverwaltungskörper nach Art der Kreise zu organisieren. Demgemäß legte
die Regierung 1874 einen weiteren Entwurf einer Provinzialordnung" und gleichzeitig
den eines neuen Dotationsgesetzes vor. Der letztere, dessen Grundgedanke es war, gewisse
Verwaltungszweige ganz aus der Staatsverwaltung auszusondern und mit allen Rechten
und Pflichten den Provinzialverbänden als eigene Angelegenheiten zu übertragen, wurde
in seinen Grundzügen angenommen und unterm 8. Juli 1875 als Gesetz betreffend die
Ausführung der §§. 5 und 6 des Gesetzes v. 30. April 1873 wegen der Dotation der
Provinzial= und Kreisverbände publiziert (G. S., S. 497). Durch dieses zweite Dota-
tionsgesetz wurden den 1873 dotierten Verbänden und dem Stadtkreise Berlin, welcher
mit dem Zustandekommen der Provinzialordnung aus dem Provinzialverbande Branden-
burg ausschied, vorweg noch 7,440,000 Mark jährlicher Rente überwiesen, um sie den
Verbänden von Hannover, Kassel und Wiesbaden gleichzustellen, die Dotationen der
letzteren wurden für Zwecke der Wohlthätigkeitspflege mäßig erhöht 5J, und endlich wurden
für alle Provinzial= und Landeskommunalverbände unter Übertragung entsprechender
1 Es wurden überwiesen: dem Provinzial-
verbande Hannover 500,000 Thlr. als jähr-
liche Dotation; dem Kommunalverbande des
Reg. Bez. Wiesbaden 142,000 Thlr. als jähr-
liche Dotation zur Fürsorge für Wegebau, Irren-
und Taubstummenpflege und außerdem einmalig
der nassauische Darlehnsfonds für unbemittelte
Gemeinden und der Rest des homburger Kau-
tionsfonds zusammen 46,380 Thlr. zur Be-
gründung einer Hilfskasse; dem Kommunal=
verbande des Reg. Bez. Kassel der vormals
kurhessische Staatsschatz zur Verwendung für
ähnliche Zwecke, wie sie später das Gesetz v.
8. Juli 1875 allgemein fixiert bat.
: Aktenstücke des A. H. 1873/74, Nr. 151.
Stenogr. Ber. des A. H. 1873/74, S. 697;
Drucks. des A. H. 1875, Nr. 14 u. zu Nr. 14.
* Vgl. auch den Komm. Ber. des A. H.,
Drucks., Nr. 170; Drucks. des H. H., Nr. 99.
* Dot. G., §§. 1 u. 16.
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