Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiter Jahrgang. 1861. (2)

310 Medersicht der Ereignisse des JLahres 1861. 
starke Truppenabtheilungen in ihnen wie auf den öffentlichen Plätzen lager- 
ten. Die Bewegung war für einmal gebrochen. Am folgenden Tage 
wurde zwar nicht der Belagerungszustand, aber eine demselben sehr nahe 
kommende Ordnung der Dinge verkündet, das Militär fuhr fort, Straßen 
und Plätze besetzt zu halten, das Tragen von Trauerkleidern u. dgl. wurde 
mit Gewalt verhindert, von Demenstrationen war vorerst keine Rede mehr. 
So war in Polen die durch den Druck der russischen Regierung 
mißachtete und darniedergehaltene Nationalität in zugleich fieberhafte und 
doch unklare Bewegung gerathen. Auch in Deutschland machte sich ein 
nationales Streben geltend aber in ganz anderer Weise. Zugleich praktisch 
und ideal ging es in erster Linie dahin, das verfassungsmäßige Recht und 
das verfassungsmäßige Leben des Volkes in den verschiedenen Staaten 
den Uebergriffen der jüngsten Reactionsperiode gegenüber wieder zur 
Anerkennung und zum vollen Ausdruck zu bringen, in zweiter Linie die 
Nation als Gesammtheit zu einigen, derselben eine ihr entsprechendere 
Form zu finden und ihr diejenige Stellung und denjenigen Einfluß in 
Europa zu erringen, der ihr nach ihrer geographischen Lage, nach ihrer 
Volkszahl und nach der ganzen Summe geistiger und materieller 
Kräfte zu gebühren schien. Die Wucht der Reaction, die nach dem 
Sturz der unreifen Bewegung vom Jahre 1848 fast überall einge- 
treten, war gebrochen, seit der Prinz von Preußen als Regent dem 
Schattenspiel verfassungsmäßiger Zustände, die das Ministerium Manteuffel 
mit Hilfe einer sehr kleinen Minderheit des preußischen Velkes systematisch 
durchgeführt, ein Ende gemacht und die Bestrebungen und Anschauungen 
der großen Mehrheit seines Volkes in seiner gemäßigtesten Form hatte 
zum Ausdrucke kommen lassen. In den ersten Tagen des Jahres 1861 starb 
König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen nach langen traurigen Leiden 
und folgte ihm der Prinz-Regent als König Wilhelm I. Voller Talem, 
zum Throne aufs sorgfältigste erzogen, von hoher und mannigfaltiger 
Bildung, nicht ohne schätzenswerthe Eigenschaften des Charakters, hatte 
Friedrich Wilhelm IV. doch weder den Erwartungen, die er erregt, nech 
den Anforderungen, welche die Zeit an ihn gestellt hatte, entsprechen. 
Seinen Intentionen, durch die er der Entwickelung seiner Zeit theils zu 
entsprechen, theils sie zu beherrschen versuchte, fehlte die Thatkraft und die 
Consequenz eines seiner Ziele bewußten Charakters und am Ende verfiel 
er einer politischen und kirchlichen Reaction, die seiner eigenen größeren 
und edleren Anlage wenig entsprach. Sein Bruder, der ihm folgte, war 
nicht zum Throne erzogen worden und hatte bis in sein reiferes Mannes-
	        
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