Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierter Jahrgang. 1863. (4)

Preußen. 139 
12. Sept. Wahlaufruf der Fortschrittspartei: 
 
         „ . . . Ohne die Mitwirkung Preußens, ohne die Theilnahme des deut- 
schen Volkes haben die deutschen Fürsten getagt, um eine neue Verfassung 
des deutschen Bundes zu berathen, in welcher weder Preußen noch das deutsche 
Volk die Stellung finden würden, welche sie nach geschichtlichem und natür- 
lichem Recht für sich in Anssruch nehmen können und müssen. Die Minister 
halten es für ein Bedürfniß unseres Volkes, bei den bevorstehenden Neuwahlen 
der Thatsache Ausdruck zu geben, daß keine politische Meinungsverschiedenheit 
in unserem Lande tief genug greife, um, gegenüber einem Versuche zur Beein- 
trächtigung der Unabhängigkeit und Würde Preußens, die Einigkeit des Volkes 
in sich und die unverbrüchliche Treue zu gefährden, mit welcher dasselbe 
seinem angestammten Herrscherhause anhängt. — Wir, die wir dem Central= 
Wahlcomité der deutschen Fortschrittspartel von Aufang an angehört haben, 
dürfen mit gutem Gewissen behaupten, daß es zu diesem Zwecke eines neuen 
Abgeordnetenhauses nicht bedurft hätte. Das Programm vom 9. Juni 
1861, auf welches hin sich unsere Partei gebildet hat, und welchem wir 
niemals untreu geworden sind, trägt an seiner Spitze folgende zwei Sätze: 
„Wir sind einig in der Treue für den König und in der festen Ueber- 
zeugung, daß die Verfassung das unlösbare Band ist, welches Fürst und 
Volk zusammenhält. Bei den großen und tiefgreifenden Umwälzungen in 
den Staatensystemen Europa's haben wir aber nicht minder die klare Ein- 
sicht gewonnen, daß „die Existenz und die Größe Preußens abhängt von 
einer festen Einigung Deutschands, die ohne gemeinsame deutsche 
Volksvertretung nicht gedacht werden kann.“ Diesem Programm 
hat unsere Partei in, und außer dem Parlament mit Hingebung nach- 
gestrebt. Wenn ihr jetzt der Vorwurf gemacht wird, daß sie in die ver- 
fassungsmäßigen Rechte der Krone einzugreifen versucht habe, so kann sie 
sich ruhig auf das Urtheil der ganzen Welt berufen, welche ihr das Zeugniß 
gibt, daß sie mit Mäßigung und Geduld das verfassungsmäßige Recht 
des Landes vertheidigt, daß sie nie und nimmer den Boden des Gesetzes 
verlassen hat. . . Die Forderungen, welche die liberale Partei des künf- 
tigen Abgeordneten- Hauses zu stellen hat, sind durch die bisherigen Kämpfe 
zu Aller Bewußtsein gelangt. Es sind die folgenden: 1) Volle Freiheit der 
Presse und demnach unverzügliche Beseitigung der Verordnung vom 1. Juni 
d. J. 2) Ausführung des in der Verfassung zugesagten Gesetzes über die 
Verantwortlichkeit der Minister. 3) Thatsächliche Anerkennung des Ausgabe- 
bewilligungsrechtes des Abg= Hauses. 4) Reform des Herrenhauses. 5) Ein 
Heer auf volksthümlicher Grundlage mit zweijähriger Dienstzeit. 6) Deutsches 
Parlament aus freier Volkswahl. Das sind Forderungen, in welche jeder 
ehrliche Freund der verfassungsmäßigen Monarchie, jeder wahre deutsche Mann 
mit vollem Herzen einstimmen muß. Es sind aber auch die Forderungen, ohne 
deren Erfüllung die Zukunft unseres Landes und unseres Herrscherhauses jedem 
Zufalle der äußeren Ereignisse preisgegeben ist. . ." 
15.  „ Wahlaufruf der ministeriell- feudalen Partei: 
          „Die Regierung hat — wie wir aus den Motiven der Auflösungsordre 
entnehmen — sich darauf beschränkt, mit Beiseitelassung aller Nebendinge 
zwei Fragen in den Vordergrund zu stellen: die Frage nach der Geltung 
des Königthums in Preußen und die Frage nach der Stellung Preu- 
ßens in Deutschland, und wir glauben den ernsten und wohlmeinenden 
Absichten Sr. Maj. des Königs am besten zu entsprechen, wenn wir auch 
unsererseits den Schwerpunkt unserer Action in diese beiden Fragen verlegen. 
Wie Se. Maj. der König wiederholt anerkannt, herrscht nach wie vor 
das unbedingteste Einverständniß  zwischen der Krone und 
deren Räthen. Umsonst ist es also schon um deswillen, die Lösung unserer 
Krisis, wie dies die Gegner allein ins Auge zu fassen scheinen, in einem
	        
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