Frankreich. 201
nach einem europäischen Congreß zunächst vorzulegenden
Fragen mit.
Depesche Drouyn's an den Geschäftsträger in London:
„ . Das Londoner Cabinet erkennt mit uns an, daß mehrere der Be-
stimmungen des Wiener Vertrags in bedenklicher Weise verletzt worden sind.
Manche der in den Verträgen vorgenommenen Aenderungen sind nicht
von allen Mächten als gesetzlich anerkannt worden. Was diejenigen Aende-
rungen betrifft, welche von allen Großmächten gutgeheißen wurden, so können
wir nicht umhin, auf die unwiderstehliche Gewalt aufmerksam zu machen, mit
welcher sie den Regierungen sich aufgedrängt haben. Die Art wie England
selbst ihnen beizutreten sich beeilt hat, beweist wie wenig die früheren Com-
binationen, um mit Lord Russel zu reden, den Anforderungen der Zeit, dem
Fortschritt der Meinung, der wandelbaren Politik der Regierungen und den
wechselnden Bedürfnissen der Nationen entsprechen, und sind wir nicht anderer-
seits zum Glauben berechtigt, daß die Harmonie und das Gleichgewicht des
Ganzen in Folge so wichtiger Umänderungen einigermaßen gelitten habe?
Wir geben mit Lord Russel zu, daß diese Veränderungen nicht nothwendig
einer allgemeineren und feierlicheren Sanction bedürfen; aber wir denken, daß es
vortheilhaft sein würde, die Trümmer hinwegzuräumen und alle lebenden Glieder
in einen einzigen lebenden Körper wieder zu vereinigen. Was die Umwand-
lungen betrifst, denen die Mächte keine einstimmige Gutheißung gegeben ha-
ben, so bilden sie ebenso viele Veranlassungen zu Streit, welche Europa jeden
Augenblick in zwei Lager theilen können. Wär' es nicht besser, anstatt die
Entscheidung hierüber der Gewalt und dem Zufall zu überlassen, wenn
man diese Fragen in einer der Billigkeit entsprechenden Weise zu lösen ver-
suchte, und diese Veränderungen dann durch eine Revision sanctionirte? Die
dritte Kategorie umfaßt jene Bestandtheile des Wiener Vertrags, welche
bedroht sind. Während der Kaiser Europa auf die Gefahren einer so tief
bewegten Lage aufmerksam machte, deutete er auch die Methode an, um die
grauenhaften Unglücksfälle, welche er voraussieht, abzuwenden — Unglücksfälle,
die ihm vielleicht weniger Bangigkeit als andern zu verursachen brauchten.
Denn die Fragen, aus denen ein Krieg heutzutag entstehen kann, interessiren
Frankreich nur mittelbar, und es würde von Frankreich allein abhängen, ob
es an dem Kampf theilnehmen oder ihm von fern zusehen will. Als der
jüngste der Souveräne erachtet der Kaiser nicht, daß ihm das Recht zustehe,
sich die Rolle eines Schiedsrichters anzumaßen, und zum Frommen der an-
dern Mächte das Programm des vorgeschlagenen Congresses im vorhinein
festzustellen. Dieß ist der Grund der Zurückhaltung, die er sich selbst auf-
erlegt hat. Es ist überdieß so schwierig, die noch nicht gelösten Fragen,
welche Europa beunruhigen können, aufzuzählen. Ein beklagenswerther Kampf
tränkt den polnischen Boden mit Blut, regt die Nachbarstaaten auf und
bedroht die Welt mit ernsten Störungen. Vergebens rufen drei Mächte die
Wiener Verträge an, welche beiden Theilen widersprechende Beweisgründe an
die Hand geben. Soll dieser Kampf ewig dauern? Ansprüche die einander
widerstreiten, erregen Hader zwischen Dänemark und Deutschland. Die Er-
haltung des Friedens im Norden ist einem Zufall preisgegeben. Die Cabi-
nette haben sich schon durch ihre Unterhandlungen an dem Streit betheiligt.
Sind sie jetzt gegen ihn gleichgültig geworden? Soll die Anarchie an der
untern Donau fortdauern und jeden Augenblick wieder eine neue blutige Arena
zum Streit über die orientalische Frage eröffnen dürfen? Sollen Oester-
reich und Italien in feindlicher Haltung einander gegenüberstehen, stets
bereit, den Wasffenstillstand zu brechen, welcher den Ausbruch ihrer Erbitterung
hindert? Soll die Besetzung Roms durch französische Truppen auf unbe-
stimmte Zeit sich hinausziehen? Müssen wir endlich, ohne einen neuen Ver-
such zur Versöhnung, der Hoffnung entsagen, die Last zu mindern, welche die